Mein wundervolles Genom
Neurotizismus würde man nicht sagen, dass Sie besonders stark zu Depressionen neigen.«
Ich schaue mir die Kurve an, und es stimmt, mein Wert für Neurotizismus liegt im oberen Normbereich. Das ist unerwartet. Dann zieht Hansen das Blatt zu sich heran und zeigt auf eine Facette von Neurotizimus, die mit »Depression« überschrieben ist.
»Auch hier sind Ihre Werte im Mittelfeld. Das heißt, alle Personen, mit denen Sie verglichen wurden, haben bei der Frage, ob sie Dinge eher düster betrachten, im Durchschnitt genauso geantwortet wie Sie. Wenn man das interpretieren sollte, könnte man sagen, wenn Sie mit Traurigkeit und Depression reagieren, gibt es in der Regel einen äußeren Grund dafür. Wenn Sie hingegen einen hohen Wert bei Depression hätten, hätte die Traurigkeit ein Eigenleben.«
Für mich klingt das, als würde Hansen den Unterschied zwischen dem beschreiben, was in der Psychiatrie früher Melancholie hieß und von innen kommt, und einer reaktiven Depression, die durch äußere Umstände und Einflüsse ausgelöst wird. Gleichzeitig spüre ich auch, dass es an meinem Selbstbild kratzt. Denn, ganz ehrlich, ich habe michimmer für eine unheilbare Melancholikerin gehalten, jemand, der leidet, weil er zum Leiden prädisponiert ist, aber dank einer inneren Stärke trotzdem alles mehr oder weniger stoisch erträgt. Ist das nun eine Selbsttäuschung? Bin ich in Wahrheit nur ein Schwächling, der die kleinen Erschütterungen des Lebens nicht erträgt?
»Nun«, sagt Hansen und holt mich zur Sache zurück, »wenn Sie alle Facetten der Dimension Neurotizismus betrachten, sieht es so aus, dass Sie sich nicht mehr Sorgen machen als andere Menschen. Andererseits...«
Er räuspert sich. Zweimal.
»...Ihre Schwelle, wenn Sie ärgerlich werden... Sie erreichen sie viel schneller als andere Menschen, und Sie können richtig wütend werden und haben Schwierigkeiten, Ihre Wut zu kontrollieren.«
Entschuldigung, aber jetzt brauche ich eine Pause. Weiß der Mann denn nicht, was für Idioten andere Leute sein können?
»Von den Merkmalen, von denen wir wissen, dass sie bei Depression im Spiel sind, ist die Reizbarkeit bei Ihnen am ausgeprägtesten«, sagt er und betrachtet mich prüfend durch seine kleinen Brillengläser.
»Das ist für Sie auffallend an meinem Test?«
»Ja. Und ich wäre nicht überrascht, wenn die meisten Ihrer Bekannten das auch über Sie sagen würden.«
Das würden sie wahrscheinlich, Menschen sind so schnell mit Urteilen bei der Hand. Aber mir kommt es vor, als hätten wir uns an einem einzelnen Punkt festgebissen, und ich versuche, das Gespräch wieder auf andere Themen zu lenken. Es muss doch auch etwas Ermutigendes geben.
»Ich finde es ein bisschen merkwürdig, dass mein Wert bei Extraversion im unteren Bereich ist, unterdurchschnittlich. Kann das wirklich sein?«
Bei meiner Lektüre über Persönlichkeitstheorien habe ich mich ein bisschen in die Extravertierten verliebt. Mir scheint, als hätten sie mehr Spaß im Leben, in allen Bereichen. Sie haben mehr Sex und mehr Sexualpartner. Sie bekommen auch höhere Gehälter.
»Ich verstehe das nicht. Denn wenn mir etwas wirklich Spaß macht, dann ist es Reden vor großem Publikum. Das muss doch extravertiert sein, oder nicht?«
Hansen lächelt nachsichtig.
»Sie haben die Dynamik noch nicht ganz erfasst, die in einer Persönlichkeit steckt. Ich sage es noch einmal: Es bringt nicht viel, isoliert einzelne Dimensionen anzuschauen. Ein in dieser Hinsicht interessanter Aspekt ist Ihr sehr geringer Wert bei sozialer Angst. Sie sagen, es macht Ihnen nichts aus, vor vielen Menschen zu stehen?«
»Nein, das gefällt mir sogar.«
»Da kommt Ihre soziale Robustheit durch, und die ist ganz hervorragend. Auf der anderen Seite kann sie dazu führen, dass Sie nicht merken, wie Sie auf andere wirken.«
Auf einmal ergeben eine Menge Dinge einen Sinn.
»Aber Ihre soziale Robustheit muss mit einem anderen Wert innerhalb der Dimension Offenheit verglichen werden, den wir emotionale Tiefe nennen. Dieser Wert ist hoch, wie Sie sehen, überdurchschnittlich, und er sagt mir, dass Ihre Offenheit für Ihre eigenen Gefühle und die von anderen sowie Ihre Fähigkeit zur Einfühlung tatsächlich hoch sind. Und deshalb sehe ich hier einen Konflikt.« Hansen klingt, als freue ihn das. »Wie funktioniert das konkret: Auf der einen Seite sind Sie leicht reizbar und schnell verletzt, auf der anderen Seite registrieren Sie die Signale von anderen nicht, obwohl Sie die
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