Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
geschlossenen Augen schnalzte er mit der Zunge und nahm solcherart seine präzise und deutliche Klassifizierung der Nebelarten vor. Er murmelte die Namen von Meeren und Inseln, von Duftpflanzen und Fischarten, von exotischen Gewürzen und auch von einigen befreundeten Händlern, Juden,Aromunen und Armeniern aus den Städten Kleinasiens und der Levante.
In der frühen Abenddämmerung nahm er hin und wieder das große Horn, das im Vorderflur als Garderobenhaken diente, und blies hinein. Das ergab einen dumpfen und traurigen Ton, ähnlich dem Klang einer Schiffssirene, der lange über den Dächern widerhallte. Das Haus trieb durch den Nebel, kam von seinem Kurs ab, zwängte sich durch Engstellen, stampfte und schaukelte.
Wir hoben die Köpfe und lauschten. Alle wussten wir, dass er in der kleinen Kammer stand, halb aus dem offenen Fenster gelehnt, und die Bewegungsrichtung des Nebels prüfte, die Veränderungen der Luftströmungen, die Anzeichen für einen maritimen Einfluss. Dann vertieften wir uns wieder in die Fallgruben und Labyrinthe des Spiels »Mensch ärgere dich nicht«, bei dem alle mitmachten. Nur eine Tante, die darauf wartete, an die Reihe zu kommen, mochte brummeln, dass er sich da oben eine böse Erkältung holen würde. »Er ist daran gewöhnt«, sagte dann Onkel Jakov und würfelte mit viel Geschick eine Sechs.
Wegen des Nebels zogen die Kamine nicht gut und die Öfen qualmten. Das Feuer in ihrem Innern war ein träges Tier, das nicht fressen wollte, sich trotzig widersetzte und schließlich einschlummerte. In der mäßig warmen Küche saß Muto, der stumme Stadtstreicher, den die Tanten mit Essensresten verköstigt hatten und den vor die Tür zu setzen sie nun nicht übers Herz brachten.
Er saß dösend am Tisch, mahlte mit den Kiefern und ließ den Speichel über das Kinn laufen, während er darauf wartete, dass man ihn aufforderte, Holz hereinzuholen oder dieÖfen von der Asche zu reinigen. Er war friedlich und wirkte abwesend, mit dem ausdruckslosen Blick eines toten Fischs, der aber auflebte, sowie meine Cousine Emilia in die Küche kam. Dann stieß Muto kehlige Schreie tierischer Wollust aus, zitterte am ganzen Körper und streckte die Arme nach ihr aus. Das Seltsamste aber war, dass das meiner Cousine Emilia nicht zuwider war: Sie kicherte zufrieden, warf das Haar zurück und wich seinen Händen mit aufreizenden Bewegungen aus.
Manchmal kam Opa Simon herunter, um sich aufzuwärmen. Seine Kleider rochen nach angesengten Lumpen und feuchter Wolle. »Draußen stinkt es nach den Fischen aus Thessaloniki«, meinte er, »der Nebel wird noch einige Tage bleiben.« Dann entwickelte er seine Theorien über den Nebel, in denen er die Angaben des hydrometeorologischen Dienstes mit den neoplatonischen Lehren von Paracelsus und Mesmers Theorien über animalischen Magnetismus vermischte. Er sprach über die unklare Konsistenz des Nebels und die Tiere, deren natürliche Lebensumwelt er sei, und erwähnte den Feuersalamander, der an besonders nebelreichen Orten lebe. Muto hob seinen wässrigen Blick und begleitete die Thesen Opa Simons mit dumpfen Lauten der Zustimmung und des Respekts. Er wollte etwas sagen, was diese Theorien bestätigen würde, doch aus seinem Mund drangen nur undeutliche Klangknäuel, verklebte Vokale und kehlige Schreie, die von wer weiß welchen trostlosen Gedanken und Gefühlen kündeten.
An solchen Tagen verließ keiner von uns das Haus. Es war der einzig sichere Zufluchtsort, eine friedliche Insel im gewaltigen Nebelmeer. Doch an jenem Nachmittag ereignetesich etwas Überraschendes. Im Hof hörten wir die Schritte eines Fremden, und als wir die Tür öffneten, erschien dort ein Postbote, dessen Messingabzeichen nur so blitzten: stilisierte Brieftauben und schneckenförmig gewundene Trompeten. Er übergab der jüngsten Tante die Benachrichtigung darüber, dass ein Paket eingetroffen sei, und verschwand, nachdem sie die Empfangsbestätigung unterschrieben hatte, mit militärischem Gruß im Nebel, einen Stadtplan und eine große Eisenbahnerlaterne in der anderen Hand.
Die ganze Familie versammelte sich um die Benachrichtigung. Jeder bemühte sich, die Daten auf den Poststempeln zu entziffern, die Herkunft und Bedeutung der Aufkleber und Marken, die Notizen und verschlüsselten Abkürzungen, deren Bedeutung nur die Experten im Postamt kannten, und stellte die gewagtesten Vermutungen und fantastischsten Theorien über den möglichen Absender und den rätselhaften Paketinhalt an.
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