Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Myrtle in Streit, weil sie Myrtle beschuldigt, ihre Bauchrednerpuppe gestohlen zu haben. Seit ihrem sechsten Lebensjahr hat sie unermüdlich einen kleinen Sketch mit Leroy, der Puppe, einstudiert, ist jedoch niemals über eine erbärmliche Darbietung von »Polly Wolly Doodle« hinausgekommen. Minnie glaubt, Myrtle hätte Leroy aus reiner Eifersucht gestohlen, weil Minnie so viele Talente hat und Myrtle die Tatsache nicht verwinden kann, dass Minnie einmal die echten »Lauren-Bacall-Zuchtperlen« gewonnen hat. Weil ich immer fast alles mitbekomme, weiß ich auch, wo sich Leroy inzwischen befindet. Louis Smeather, der Typ mit den Pilzen, der am meisten unter dem erbärmlichen Sketch zu leiden hatte, weil er Tür an Tür mit den Bupps wohnt, hat Leroy einen kleinen Smoking angezogen und ihn an seinen Küchentisch gesetzt. Ich nehme an, Louis spricht jetzt nicht nur mit seinen Pilzen, sondern auch mit Leroy.
Da es in Jumbo weder Verbrechen noch mysteriöse Todesfälle gibt, hat Sheriff Bupp nur wenig zu tun. Nicht dass er in der Lage wäre, etwas zu unternehmen, wenn es darauf ankäme. Einmal hat er sich aus Versehen den kleinen Zeh weggeschossen
und sich danach in das Haus von Minnies Kusine Rudy nach Odessa zurückgezogen, damit niemand bemerkte, dass er mit Schusswaffen nicht umgehen konnte. Minnie hat mir davon erzählt, als sie an einem von meinen Tootsie Pops lutschte. Sie hat mir auch anvertraut, dass der Sheriff bis zu seinem zwölften Lebensjahr ein Bettnässer war. Wenn er mal wieder ins Bett gemacht hatte, ließen ihn die Tanten noch tagelang auf demselben Laken schlafen, ehe sie es wuschen.
Sheriff Bupp brauchte mehrere Wochen, um mich aufzusuchen und sich nach Onkel Dal zu erkundigen. Es war jetzt fast Mitte Oktober und immer noch glühend heiß, doch ließ die veränderte Luft erahnen, dass sich das Wetter bald ändern würde. Nach Unterrichtsschluss am Mittwoch sammelten Biswick und ich Müll auf dem Friedhof auf. Genauer gesagt, ich sammelte den Müll auf, weil Biswick zu große Angst hatte, den Friedhof zu betreten. Er saß draußen vor dem klapprigen Tor und lutschte an zwei Tootsie-Pops auf einmal - in jeder Wange hatte er einen.
Zum Friedhof fahre ich nur gelegentlich, weil hier ohnehin kaum Leute sind, die Abfall zurücklassen könnten. Dennoch bietet er einen traurigen Anblick. Obedias Cuernavacas kunstvoll verzierte Grabsteine sind seit Langem sich selbst überlassen. Wie schlechte Zähne neigen sie sich mal hierhin, mal dorthin, um ihren erbärmlichen Zustand zu dokumentieren. In der Nähe befindet sich ein altes Baumwollfeld, das aus rätselhaften Gründen letztes Jahr zum Leben erwacht ist und die Friedhofswege mit Baumwollbüscheln tupft, die aussehen wie weiße Schokoladensplitter.
»Da drüben bist du mir keine Hilfe!«, rief ich Biswick zu. »Wir tun hier ein gutes Werk, das wolltest du doch.«
Er gurgelte eine Antwort.
»Ich kann dich nicht verstehen!«, rief ich. »Verwunderlich.«
Wieder hörte ich nur ein Gurgeln, während ihm roter Speichel
aus dem Mundwinkel lief. »Nimm die Lollis raus!«, schrie ich und spießte einen Styroporbecher auf.
Biswick spuckte einen Tootsie Pop aus, der mit einem hellen Geräusch gegen die Eisenstäbe prallte. »Mein Vater nuschelt auch immer!«, rief er, worüber er selbst so lachen musste, dass er auch den anderen Lolli in den Dreck spuckte.
»Lutscht er auch an Lutschern?«, fragte ich.
»Glaubst du, Veraleen kann hexen?«, fragte er zurück.
»Nein«, antwortete ich, während ich einen Kronkorken aufspießte. Früher habe ich mal Kronkorken gesammelt, aber Grandma wurde so hysterisch, weil auch ein paar Bierkorken dabei waren, dass ich damit aufhören musste. »Warum fragst du das?«
»Das hat Daddy gesagt, nachdem der Insektenstich am nächsten Tag wieder verschwunden war. Er sagt, ich soll mich von ihr fernhalten. Aber ich mag sie.« Eine halbe Sekunde später: »Ich will nach Hause. Jetzt gleich!« Seine Stimmungen wechseln schneller, als sich schlechte Nachrichten auf einem Kirchenfest verbreiten. (So ähnlich hätte Grandma das wohl gesagt.)
»Du bist ständig am Quengeln, Biswick. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«, fragte ich. König Quengel!
»Die Leute sind tot, Merilee. Da kriegst du mich nicht rein«, jammerte er. »Nie im Leben! Da spukt’s. Die Geister sind böse, weil wir auf ihnen herumtrampeln.«
»Lächerlich. Wie du richtig bemerkt hast, Biswick, sind die Leute tot. Also können sie auch nicht böse auf uns sein.«
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