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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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Wenn ich mich irgendwo ruhig und gelassen fühle, dann auf dem Friedhof, wo mich niemand stört.
    »Sie wissen es trotzdem«, sagte er leise.
    Als ich gerade einen weiteren Kronkorken in meinem Müllsack verschwinden ließ, nahm ich am Rand meines Blickfelds eine schwache Bewegung wahr. Für jemanden, der gerade
behauptet hat, nicht an Geister zu glauben, machte ich einen weiten Satz wie eine zu Tode erschrockene Katze. Als ich wieder auf dem Boden landete, erblickte ich hinter einem der Grabsteine ein Bein, das in Jeans und einem Stiefel steckte. Um Himmels willen. Lag dort vielleicht ein Toter? Einatmen - ausatmen, Merilee. Das Bein zuckte. Es konnte kein Toter sein. Vielleicht jemand, der sich verletzt hatte? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um mehr erkennen zu können.
    Dort lag eine Person, die alle viere entspannt von sich gestreckt hatte, als mache sie ein Mittagsschläfchen. Der Brustkorb bewegte sich sanft auf und ab.
    Ich runzelte die Stirn. Es war Biswicks Daddy, Jack O’Con nor, der Dichter.
    Das Kruzifix, das um seinen Hals hing, funkelte in der Sonne. Abgesehen von der Tatsache, dass er von fünf leeren Bierflaschen umgeben war, die wie umgeworfene Kegel aussahen, fügte er sich vollkommen harmonisch in seine Umgebung ein, als würde er sich jeden Nachmittag mit seiner Sonnenbrille auf den Friedhof legen, um Mittagsschlaf zu halten. Im Stillen hörte ich die dämliche Lorelei quaken: Sieht er nicht fantastisch aus?
    Biswick stand hinter dem Eingangstor, hielt die Gitterstäbe umklammert und spähte angestrengt durch sie hindurch. Er wusste, dass ich eine spektakuläre Entdeckung gemacht hatte.
    »Was ist da?«, wisperte er. »Ein Geist?«
    »Nein, nein«, beruhigte ich ihn. »Es ist nichts. Lass uns nach Hause gehen!« Doch meine Stimme überschlug sich fast in nervösem Stakkato. Ich konnte nichts dagegen tun. »Schauerlich.«
    Leise schob er das Tor auf. »Pst!« Er hielt sich krampfhaft den Finger vor die Lippen und sah aus wie jemand, der weiß, dass er gerade seine letzten Schritte macht.
    Ich konnte ihn nicht aufhalten. Auf Zehenspitzen schlich er
zu mir herüber, um meine Entdeckung zu begutachten. Dann fing er schallend an zu lachen. »Das ist doch nur Daddy!«
    »Das weiß ich auch!«, erwiderte ich verärgert. »Aber er sollte hier nicht in der Sonne liegen. Wir müssen ihn nach Hause bringen.«
    Biswicks Gesicht verdüsterte sich. »Oh nein, bitte nicht. Du darfst ihn nicht anfassen! Mein Daddy schläft immer, wo es ihm passt. Er sagt, das macht seinen Kopf frei, damit er wieder Gedichte schreiben kann. Wenn er sich ausgeruht hat, kommt er von allein nach Hause.«
    »Außerordentlich«, sagte ich. Ich betrachtete die Bierflaschen und musste an das Lied denken: »Ninety-nine bottles of beer on the wall, ninety-nine bottles of beer, take one down, pass it around, ninety-eight bottles of beer on the wall.« Ich fragte mich, ob das die Art von Gedichten war, die Jack O’Con nor schrieb - Ode an ein Bier auf dem Friedhof oder Kleines Gelage unter Toten .
    »Spricht dein Vater manchmal undeutlich, bevor er sich schlafen legt?«, fragte ich. Einatmen - ausatmen. Das war ein langer altkluger Satz.
    Biswick tat so, als studiere er die Grabsteine. »Yeah«, antwortete er. »Dann gibt er mir Geld, damit ich einen langen Spaziergang mache. Er will, dass ich mich viel bewege. Hey, wie kommt es, dass auf diesem so wenig Wörter stehen?« Biswick zeigte auf eine kleine Gedenktafel, die ein wenig abseits stand.
    Ich ging zu ihm hinüber und ließ unsere schlummernde Schönheit für einen Moment allein. Ich las den Text laut:
    »Stummer Idiot. 1910 - 1918.« Das war alles.
    »Ein Kind ohne Namen«, erklärte ich ihm. „Es ist vor langer Zeit gestorben.«
    »Du hast doch den Namen gesagt. Stummer Idiot.«
    »Kein Name. Stumm bedeutet, dass das Kind nicht sprechen konnte. Verwunderlich.«

    Biswick schob die Unterlippe vor. Das Schild schien ihn trauriger zu machen als sein Vater, der betrunken im Gras lag. »Warum haben sie nicht seinen richtigen Namen aufgeschrieben?«
    »Vielleicht kannte den keiner«, antwortete ich.
    »Vielleicht war er ein unbekannter Waisenjunge, der irgendwann in die Stadt kam und sofort gestorben ist«, schlug Biswick vor.
    »Er?«
    »Es war bestimmt ein Junge. Das spüre ich in den Füßen.«
    Er hatte recht. Ich spürte es auch. In meinen Füßen. Es war ein Junge.
    »Das ist so traurig, Merilee«, sagte er. »Meinst du, du könntest seinen Namen

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