Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
schön gemütlich eingerichtet, Merilee. An diesem kleinen, sicheren Ort, den du dein ganzes Leben lang nicht zu verlassen brauchst. Glaub mir, ich weiß, wie das ist. Und du suchst ständig nach Begründungen, um in deiner kleinen Fantasiewelt bleiben zu können. Arme Merilee Monroe. Man hat dir so übel mitgespielt, du musst so vieles ertragen, dass du glaubst, niemanden lieben zu können. Aber eines kann ich dir sagen: Der allmächtige Gott da oben, der will, dass du dich entwickelst, dass du liebst und geliebt wirst.«
»Ha! Verwunderlich! Du hast mir doch selbst erzählt...«, keuchte ich zwischen zwei tiefen FF-Atemzügen, »... dass Küsse verfliegen.«
»Du weißt, dass ich jetzt nicht vom Küssen rede. Es gibt so viele Arten von Liebe, Merilee, und die Liebe deiner Familie ist die allerwichtigste. Die Magie, nach der du dich sehnst, wirst du niemals finden, wenn du nicht einmal die Liebe entdeckst, die dich hier umgibt.« Sie öffnete mir die Tür.
»Du hast keinen Grund, dich mir gegenüber so aufzuspielen!«, sagte ich und stampfte auf die Tür zu. »Dabei tust du selbst so geheimnisvoll und rückst nicht mit der Sprache heraus!
« Ich wollte gerade meinen großen Abgang beenden, als ein schmaler Schatten in der Tür erschien.
Wir hörten ein Schniefen. Plötzlich stand Biswick mit schmutzigem Gesicht und verquollenen Augen auf der Schwelle. »Ich habe die ganze Nacht nach ihm gesucht. Ich bin überall gewesen«, schluchzte er. »Mein Daddy ist nicht nach Hause gekommen!«
Zwanzigstes Kapitel
A ls kleines Mädchen hab ich mal meinen Lieblingsring mit dem Drachen darauf verloren. Daddy hatte zwölf 25-Cent-Stücke in den Spielzeugautomaten vor dem Piggly Wiggly werfen müssen, bis wir ihn endlich hatten. Beim Händewaschen ist er mir dann vom Finger gerutscht und sofort im Abfluss verschwunden. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich ihn mir vielleicht noch schnappen können, doch war ich so gebannt von dem vermeintlich unabänderlichen Vorgang, dass ich zu keiner Reaktion in der Lage war. Als Biswick an diesem Tag an Veraleens Tür erschien, hatte ich wieder den Eindruck des Unabänderlichen - wie ein schwindelerregender Strudel, dem man sich nicht entziehen kann. Nun wünschte ich mir nichts sehnlicher, als den Tag auf der Müllhalde noch einmal erleben zu können. In Gedanken sah ich Jack O’Connor regungslos auf der Matratze liegen und auf einmal schrillten alle Alarmglocken in mir.
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«, fragte Veraleen Biswick.
Biswick unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich über die Augen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß es nicht.«
»Wie meinst du das? Hast du ihn denn nicht gestern Abend oder heute Morgen beim Aufstehen gesehen?«
»Morgens sehe ich ihn nie. Da schläft er noch. Ich gehe immer allein zur Bushaltestelle.«
Veraleen und ich wechselten einen Blick.
»Wo kann er nur sein, Veraleen? Ich will, dass mein Daddy Jack wieder nach Hause kommt!«, jammerte er.
Ich hatte das Gefühl, dass etwas aus mir heraussickerte - wie Blut aus einer tödlichen Wunde. In meinen Ohren hörte ich ein lautes Zischen wie von einer wütenden Schlange. »Ich glaube, ich weiß, wo er ist«, flüsterte ich Veraleen zu, während ich mich an der Stuhllehne festhielt.
FF, FF, FF. Oh mein Gott.
Sie drehte sich um. Ihre stechenden blauen Augen bohrten sich fragend in meine. Was? Wo? Sag es mir!
Ich biss auf meine Unterlippe und schluckte. Wenn wir gemeinsam zur Müllhalde fuhren, würde Biswick alles mit ansehen müssen. Vielleicht schlief er ja nur. Doch ich wusste es besser. Ich formte meine Hände zu einem Trichter und flüsterte Veraleen ins Ohr: »Ich glaube, wir sollten den Sheriff alarmieren.«
»Der Sheriff kommt nicht infrage«, sagte Veraleen, als wir ins Auto sprangen. Wir brausten davon und jagten auf zwei Rädern um die Kurven. Ich sank immer tiefer in meinen Vordersitz, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwann ganz zu verschwinden und nie wieder gesehen zu werden. Biswick heulte auf der Rückbank.
»Ich will nicht, dass Biswick irgendetwas sieht!«, flehte ich mit leiser Stimme.
»Er wird nichts sehen. Mach dir keine Sorgen. Ich guck mir die Sache erst mal allein an. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
Wenige Minuten später machte Veraleen eine Vollbremsung. Wir waren noch so weit von der Müllkippe entfernt, dass Biswick keinen Verdacht schöpfen konnte. Sie stieg aus, streckte ihren Kopf durchs offene Fenster und sagte: »Ihr beiden
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