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Meine gute alte Zeit - Teil I

Meine gute alte Zeit - Teil I

Titel: Meine gute alte Zeit - Teil I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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schon früh im Leben klar we r den, das ist wichtig. Es gibt Dinge, die man einfach nicht haben kann – natürliche Locken im Haar, schwarze A u gen (wenn man blaue hat) oder eben den Titel einer Lady Agatha.
    Im Großen und Ganzen halte ich den Snobismus me i ner Kindheit, a l so den meiner Geburt, für erträglicher als den des Reichtums oder den intellektuellen Snobismus. Der intellektuelle Snobismus scheint mir heute eine b e sondere Form von Neid und Missgunst hervorzubringen. Die Eltern sind en t schlossen, alles zu tun, um ihre Sprössli n ge brillieren zu lassen. »Wir haben große Opfer gebracht, um dir eine gute Erziehung zu ermöglichen«, sagen sie. Das Kind fühlt sich schuldbeladen, wenn es ihre Hoffnungen nicht erfüllen kann. Die Le u te sind so schrecklich sicher, dass alles nur eine Frage der günstigen Gelegenheit ist – nicht der natü r lichen Eignung.
    Ich glaube, dass die viktorianischen Eltern vernünftiger dachten und mehr Verständnis für ihre Kinder hatten und für das, was sie brauc h ten, um ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen. Man b e mühte sich weit weniger, mit den Nachbarn Schritt zu halten. Die Viktor i aner beurteilten ihre Kinder leidenschaftslos und schät z ten ihre Fähigkeiten realistisch ein. Aus A. würde offe n sichtlich eine »Schö n heit«, aus B. der Kopf der Familie werden, C. würde unansehnlich bleiben und war ganz gewiss kein intellektueller Typ. Für Sozialarbeit war sie noch am besten geeignet… Natürlich lagen sie manchmal falsch, aber im Großen und Ganzen funktionierte das System.
    Im Gegensatz zum Großteil unserer Freunde waren wir nicht sehr wohlhabend. Als Amerikaner hielt man Vater aut o matisch für »reich«. Man hielt alle Amerikaner für reich. In Wahrheit war er einigermaßen gut situiert. Wir hatten weder einen Butler noch einen Lakai. Wir hatten ke i nen Wagen mit Kutscher und Pferden. Wir hatten drei Diens t boten, für jene Zeit ein Minimum. Wenn ich mich an einem feuchten Tag mit einer Freundin zum Tee tre f fen wollte, ging ich in Regenmantel und Galoschen zwe i einhalb Kilometer zu Fuß. Für ein Kind wurde keine Mietskutsche bestellt, außer wenn es in einem empfindl i chen Kleid zu einer großen Party ging.
    Andererseits waren die Mahlzeiten, die den Gästen in uns e rem Haus vorgesetzt wurden, unglaublich aufwändig nach modernen Maßstäben – heute müsste man einen Chef- und einen Hilfskoch dazu engagieren. Unlängst fiel mir das Menü einer unserer Dinnerpartys (für zehn Pe r sonen) in die Hände. Die Speisenfolge begann mit (nach Wahl) klarer oder eingemachter Suppe, dann gab es g e kochten Steinbutt oder Scho l lenfilet, darauf ein Sorbet, anschließend Hammelrücken und – eigentlich nicht ganz passend – Hummermayonnaise. Zum Nachtisch wurden Pudding Diplomatique, Charlotte Russe und Obst se r viert. All diese Arbeit bewä l tigte Jane ohne jede Hilfe.
    Bei uns war es meine Schwester, die schon früh als »Kopf der Fam i lie« anerkannt wurde. Die Vorsteherin ihrer Schule in Brighton riet, sie an das Women’s College in Girton gehen zu lassen. Vater nahm den Vo r schlag ungnädig auf. »Wir wollen aus Madge keinen Blaustrumpf m a chen«, meinte er. »Sie soll ihre Ausbildung in Paris erha l ten.« Also fuhr meine Schwester nach Paris, äußerst befriedigt, da sie keinerlei Lust hatte, nach Girton zu g e hen. Sie war witzig, sehr unte r haltsam, schlagfertig und erfolgreich in allem, was sie anpackte. Mein Bruder, ein Jahr jünger als sie, besaß großen persönlichen Charme. Er hatte eine Vorliebe für Literatur, war aber nicht sonde r lich intelligent. Meine Eltern waren sich, glaube ich, da r über im Klaren, dass er »der Schwierige« sein würde. Er interessierte sich für Maschinenbau. Vater hatte gehofft, er würde in eine Bank eintreten, erkannte jedoch, dass ihm die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgre i che Karriere fehlten. Also begann er mit M a schinenbau – und kam auch da nicht weit, weil ihm die Mathematik Schwierigkeiten machte.
    Was mich betrifft, wurde ich stets, wenn auch auf nette We i se, als die »Langsame« angesehen. Meine Mutter und meine Schwester re a gierten ungewöhnlich schnell – ich kam da nicht mit. Außerdem sprach ich u n deutlich. Es fiel mir immer schwer, in Worte zu fassen, was ich sagen wollte. »Agatha ist so schrecklich langsam«, hieß es. Das war die Wah r heit, ich wusste es und akzeptierte es. Es störte mich nicht, und es krän k te mich nicht. Ich

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