Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
hörst, was er dir so unglaublich Wichtiges zu sagen hatte, dass er dazu stehen bleiben musste, dann könntest du ihm direkt eine scheuern.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, rief Alagia (sie lag schon deutlich hinter Alf und mir zurück).
»Aber …« – Alfredo bemerkte erst jetzt, dass seine Schwester stehen geblieben war, und wandte sich um.
» Wir gehen jetzt über die Straße!«, rief ich in Richtung Alagia, packte Alf am rechten Handgelenk, hetzte auf die Fußgängerampel zu und zerrte ihn bei Dunkelgelb über den Zebrastreifen.
Mein Junge ließ die blitzartige Freiheitsberaubung mit einer gewissen Entgeisterung über sich ergehen (während ich ihn hinüberzerrte, wich sein Blick keine Sekunde von seiner Schwester, in die jetzt – leider zu spät, ätsch bätsch – Bewegung kam), leistete aber, abgesehen davon, dass ich am Ende der Kreuzung ein paarmal ruckartig an ihm ziehen musste, keinen nennenswerten Widerstand.
Auf der anderen Straßenseite und den allerletzten Drücker (knapp bevor die Ampel für die Autos auf Grün schaltete) entließ ich ihn aus meiner Umklammerung.
Alagia (auf der anderen Seite der Kreuzung) kochte ganz offensichtlich vor Wut. Durch den Verkehr, der zwischen ihr und uns toste, wurden der Abstand und vor allem die Marginalisierung, in die ich sie gezwungen hatte, noch endgültiger. (Mein Timing ist wirklich immer astrein, wenn es um Prinzipienfragen geht.)
Wie auch immer – wir standen also da und warteten, Alf und ich. Ich schaute in einen Gully und machte mich schon mal auf das Donnerwetter gefasst, das direkt nach der Ampelschaltung auf Grün losbrechen würde, Alf sandte rechtfertigende Blicke aus und zuckte abwechselnd mit den Achseln, als wollte er sagen: ›Ich bin unschuldig, echt! Er war’s.‹
Als sie über die Straße kam, war sie so wütend, dass es aussah, als würde sie den Oberkörper vor sich hertragen. Und als habe sie zwei Ewigkeiten warten müssen, bis es endlich grün wurde (die Rotphasen verhalten sich bekanntlich umgekehrt proportional zur Eile derer, die auf die Ampel schauen. Aus diesem Grund geht man hierzulande ja auch bei Rot über die Straße).
»Seit wann bist du denn so ein Grobian?«, brüllte sie mich an, als sie schließlich vor mir stand.
»Bleib halt nicht einfach stehen, wenn du mit mir sprichst«, grummelte ich. Wild entschlossen, ihr Paroli zu bieten.
»Wie bitte?«, fragte Alagia irritiert.
»Los, gehen wir weiter«, sagte ich und wollte Alf wieder beim Handgelenk packen, aber diesmal entzog er sich rechtzeitig.
»Darf man vielleicht erfahren, was da auf einmal in dich gefahren ist?«, fragte Alagia. Meine Sturheit schien sie zu verwirren.
Alf sagte nichts dazu, aber die Frage seiner Schwester würde er unterschreiben, das war klar.
» Nichts ist in mich gefahren«, brauste ich auf. »Frag mich, was du willst, aber bleib dabei nicht stehen, ja?«
»Verfolgt uns vielleicht jemand?«, fragte Alfredo. Er hatte sich also auf Alagias Seite geschlagen. Na toll.
»Ha ha, du Witzbold«, antwortete ich, weil mir sonst nichts Besseres einfiel.
»Das war kein Witz. Entschuldige die dumme Frage, aber warum dürfen wir nicht stehen bleiben? Versteh ich echt nicht, Papa.«
Worauf ich erst mal den Mund hielt, zumal ich befürchtete, in ein klassisches ›Misunderstanding‹ hineingeraten zu sein.
Ja, ihr habt richtig gelesen: Misunderstanding .
So nennen das die Leute, die unbedingt als parkettsichere (und selbstredend mehrere Fremdsprachen beherrschende) Weltenbürger wahrgenommen werden wollen, wenn einer was sagt und der andere, der ihm zuhört, (aus gutem Grund) etwas anderes versteht, der Sprecher das jedoch sofort merkt und dem Falschversteher in die Parade fährt:
›Entschuldige, das ist ein Misunderstanding ‹;
und der andere: ›Ah ja, stimmt‹ (möglicherweise ist er aber auch schneller und wirft als Erster ganz kultiviert das Fremdwort auf den Tisch: ›Das muss ein Misunderstanding sein‹).
Irgendwann kommen sie dann aber doch noch miteinander ins Reine und sind glücklich und zufrieden. Aber nicht, weil sie das Missverständnis geklärt haben – diesen Zahn muss ich euch leider ziehen –, sondern weil sie alle beide Misunderstanding gesagt haben.
Also, um nochmal auf meinen Sohn und mich und unsere familiäre Fragerunde zurückzukommen. Weshalb es verboten sei, einfach stehen zu bleiben, hatte er gefragt.
»Wäre ein bisschen umständlich zu erklären«, schnauzte ich kryptisch.
»Aber was denn?«,
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