Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
Genugtuung.
Womit ich allerdings überhaupt nicht gerechnet hatte, war, dass sie sie direkt aufmachen würde, die Flasche.
Eine Reality-Show ist nur
ein verlängertes Off-The-Records
»Schau mich an, nicht ihn«, befiehlt Ingenieur Romolo Sesti Orfeo seinem Gefangenen, der ungläubig auf Matteo den Wurstwarenverkäufer und das Paketband in seiner Hand starrt.
In Zeitlupe dreht Matrix den Kopf zum Ingenieur, bringt es aber fertig, seinen Blick weiterhin bedrohlich schräg auf dem armen Wurstwarenverkäufer ruhen zu lassen. (Der wird übrigens tatsächlich leichenblass und bleibt in einem halben Meter Entfernung vor ihnen stehen. Mit der Rolle Klebeband weiß er offenbar nichts mehr anzufangen, so verwirrt ist er.)
Ich sehe seine erschrockene Gestalt im oberen Monitor und empfinde Mitleid, was mir kurzfristig den Blick vernebelt.
Das unvorhergesehene Auftauchen von Matteo bringt den Ingenieur aus der Fassung – er packt Matrix bei den Haaren, zieht ihn zu sich her und bohrt ihm den Pistolenlauf unters Kinn.
Matrix schließt die Augen, kneift die Lippen zusammen und atmet geräuschvoll ein (wie ein Schmerzpatient, der sich auf die nächste anrollende Schmerzwelle einstellt).
»Reicht es dir noch nicht? Willst du deine Spielchen immer noch weitertreiben?«, warnt ihn der Ingenieur. »Weißt du was? Dann schieß ich dir am besten gleich in den Oberschenkel. Das erspart mir sogar die Mühe dich anzubinden.«
›Willst du deine Spielchen immer noch weitertreiben?‹ , äffe ich Romolo Sesti Orfeo im Geiste nach und verkneife mir den Impuls, zu seinem Spott wie ein Furzsack loszuknattern. Wie kann man sich entblöden, solche abgedroschenen Phrasen aufzusagen? Das frage ich mich wirklich …
Matrix öffnet die Augen, verschafft seinem Peiniger aber nicht die Genugtuung einer Antwort.
›Der blufft‹, denke ich.
»Vorwärts, Matteo, beweg dich«, befiehlt der Ingenieur dem mittlerweile komplett verschüchterten Verkäufer.
»Zum Teufel«, platze ich heraus und bin mit zwei ungeduldigen Schritten bei Matteo. Der ist zu nichts mehr zu gebrauchen, weshalb ich ihm kurzerhand das Klebeband aus der Hand reiße. »Gib schon her.«
Matrix heftet seine aufgerissenen Augen mit beinahe vertrauter Verwunderung auf mich.
›Wer dieser Typ wohl sein mag‹, scheint er sich zu fragen. ›Steht hier die ganze Zeit rum und unternimmt nichts.‹
Ingenieur Romolo Sesti Orfeo hingegen deutet ein Lächeln der Wertschätzung für meine ungefragte Einmischung an (dabei wünschte ich mir sehr, er würde endlich das Flirten mit mir einstellen, denn damit belästigt er mich jetzt schon seit geschlagenen zwei Stunden).
Ohne lange zu fackeln, beuge ich mich zu Matrix hinunter und umwickle seine Knöchel (bei der Gelegenheit stelle ich fest, dass er gar nicht mal üble Stiefel anhat, die würden meiner Freundin Paoletta bestimmt gefallen). Von den Knöcheln über die Schienbeine, Waden hoch bis zu den Knien. Dann zurre ich alles nochmal fest und reiße das Klebeband seitlich mit den Zähnen von der Rolle ab.
Damit ist der Fall für mich erledigt, und ich stehe wieder auf. Mit abschätzigem Blick mustere ich Geiselnehmer und Geisel, die sich umschlungen halten wie zwei Liebende beim Liebesakt. Dann hebe ich den rechten Arm und werfe die Rolle Klebeband haarscharf über den Kopf des Ingenieurs, so dass er ihn instinktiv einzieht und mich erstaunt anschaut.
Jetzt sollte ich besser nichts sagen, denkt etwas in mir, und tatsächlich schweige ich, wodurch ich die Rüpelhaftigkeit meiner Geste symbolisch auflade, die in diesem Augenblick (möglicherweise auch wegen der Kameras, die uns aufnehmen) dafür sorgt, dass ich mir ziemlich cool vorkomme. (Was ich tatsächlich auch bin, weil ich wenig später nämlich realisiere, dass ich Romolo Sesti Orfeo seinen großen Auftritt versaut und die hehre Ästhetik der Situation entweiht habe, indem ich ihm das Klebeband vor die Füße warf. Dass ich dem Ingenieur mit dieser symbolischen Geste meine Missachtung kundtat und ihm niederträchtige Beweggründe für seine Tat unterstellte, dürfte sich nämlich selbst dem psychoanalytischen Laien erschließen.)
Ich betrachte mich kurz im Spiegel des Monitors und gewinne den Eindruck, dass ich jetzt die Moderation übernommen habe (unglaublich, wie das Fernsehen es schafft, den Prahlhans, der in uns steckt, hervorzulocken). Im Grunde habe ich diesem Laienschauspieler von Geiselnehmer nämlich nicht die Show gestohlen, nein: ich habe sie mir
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