Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
dem anderen das Vorgefallene zwanghaft in jeder Einzelheit zu erzählen und ja kein Detail, keinen einzigen gefallenen Satz auszulassen, richtig geschwätzig.
So ist das auch bei uns.
Wir vergleichen unsere beiden Perspektiven miteinander, halten sie gegen-, neben- und sogar übereinander. Wir nehmen uns wechselseitig immer wieder das Wort aus dem Mund, fast als wollten wir uns auf so etwas wie eine feierliche Fassung des Vorfalls einigen, die nur uns gehört.
Unentwegt bin ich am Ergänzen, Vervollständigen, Hinzufügen von klitzekleinen Details, die mir wieder einfallen, wobei ich mir allen Ernstes einbilde, ich wüsste viel besser Bescheid als die Fernsehzuschauer, die alles am Bildschirm verfolgt haben (wahrscheinlich ist die Sitution ähnlich skurril, wie wenn du deiner Fußballmannschaft zum Auswärtsspiel nachfährst und dich deine Kumpels, die dasselbe Spiel im Fernsehen verfolgt haben, hinterher mit Fragen löchern, als hättest du das Original und sie nur eine Imitation gesehen).
Irgendwann beißt sich Ale dann bei der Theorie vom Fernsehanwalt fest, die Ingenieur Romolo Sesti Orfeo mir, als sei ich weltfremd und nicht der Hellste, bis zum Abwinken eingetrichtert hat.
Und dann sprechen wir eine geschlagene halbe Stunde nur darüber.
»Weißt du«, verkündet sie mir (obwohl sie den Gedanken mittlerweile garantiert zum vierten Mal wiederholt) in wichtigem und vertraulichem Ton (so nach dem Motto ›Das bleibt aber unter uns‹), »ich gebe es ungern zu, aber die Idee, dass unser Beruf sich von den Gerichtssälen in die Fernsehstudios verlagert hat, erscheint mir erschreckend wahr. Ich weiß, ich dürfte das nicht sagen, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich dem Ingenieur recht geben. Im Grunde hat uns der Mann mit wenigen Worten eine einfache Wahrheit ins Gesicht geschleudert, die wir Anwälte sehr wohl kennen, aber uns nie zuzugeben trauten.«
»Und die wäre …?«, frage ich nach (und bereue meine Neugierde augenblicklich, weil jetzt, wie ich es hätte vorhersehen müssen, die Kundgebung erst so richtig losgeht.)
»… die wäre, dass mittlerweile nicht mehr zählt, ob einer was kann oder nicht, Vincenzo. Dass der Anwalt heute das Pendant zu einem Immobilienkaufmann ist, ein Händler auf dem Papier, verstehst du, der Immobilien nicht mal verkauft, sondern nur zu verkaufen verspricht , und wann und wie sie gebaut werden, steht in den Sternen. Er liefert Leistungen ohne Gegenstand und macht sich die Hände erst gar nicht mit Arbeit schmutzig, sondern vermittelt, verschiebt und schwafelt zusammenhangloses Zeugs daher: Achte mal drauf: Der Null-acht-fünfzehn-Anwalt sagt nie etwas, er wird höchstens einmal etwas bestreiten oder der gegnerischen Seite widersprechen.«
Meine Fresse, ich komme mir vor wie bei Radio Radicale . Wenn Ale erst mal in Schwung kommt, ist sie nicht mehr zu bremsen. Und wehe, du hörst nicht aufmerksam zu. Sie ist glatt in der Lage und packt dich am Kinn, zerrt dein Gesicht vor ihr Gesicht und zwingt dich mit körperlicher Gewalt ihr zuzuhören, bis sie fertig ist. Und wenn sie nicht überzeugt ist, dass du auch wirklich gut aufgepasst hast, fragt sie dich hinterher sogar noch ab.
»Es ist absurd, aber so ist es nun mal«, schwadroniert Ale weiter. »Der Fernsehanwalt macht keinerlei konkrete Vorschläge, bringt nichts auf die Reihe, verliert mehr Fälle als er gewinnt, und doch ist er immer auf dem Gipfel des Erfolgs. Sein beruflicher Erfolg hat rein gar nichts mit seinen Verdiensten zu tun, die Verteidigung, die er bringt, beschränkt sich auf die Anfechtung der Anklage. Und mit diesem Grundsystem kehrt er die Beweislast um: faktisch, stell dir vor, gibt der Fernsehanwalt die Arbeit an die Institution weiter, die ein bisschen so dasteht, als müsste sie sich dafür rechtfertigen, dass sie seinem Mandanten den Prozess machen will. Aber das Perverse ist doch, dass dieser moderne Schwindler trotzdem Erfolg hat. Dass er Trends setzt. Wenn irgendeine Reform ansteht, dann schwadroniert er in die Kameras und drängt uns seinen Senf auf. Aber selbst da sagt er nie etwas Konkretes – achte bei Gelegenheit mal da drauf – nein, er stellt nur allgemeine, offensichtliche und irgendwie desinteressierte Betrachtungen an, drückt sich, wendet politisch gesehen alles ins Läppische, aber ausgerechnet über seine Meinung wird in den Zeitungen berichtet! So läuft das, Vince’. Leute wie wir, die eine jahrelange Ochsentour hinter sich haben und die den Betrieb am
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