Meine zwei Halbzeiten
an, darunter einige Pullover, die man je nach Temperatur Schicht für Schicht ablegen konnte. Die Sitzplätze in den Abteilen
waren immer von den gleichen Leuten besetzt. |60| Wenn sie einstiegen, suchten sie ihren angestammten Platz auf und schliefen bis zu der Haltestelle, an der sie aussteigen
mussten.
Putzen, mauern, schwere Gegenstände tragen, Leitungen frei hauen, so ging es Tag für Tag. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich
würde nur aus Staub, Mörtel und Zement bestehen. In der Frühstückspause trank der harte Kern keinen Kaffee, sondern Bier.
Mittags war es aber aufgrund der Sonderregelung vorbei mit meinem Leben als Maurer. Während die anderen bis sechzehn Uhr in
ihrer Brigade arbeiten mussten, rannte ich schon längst über den Fußballplatz. Manchmal trickste ich auch mit einem angeblichen
Zusatztraining, um so schnell wie möglich Baustelle oder Schule verlassen zu können. Eigentlich war ich als Arbeiter vollkommen
überflüssig, mehr oder weniger ein geduldetes Anhängsel.
Der Umgangston in der Brigade war ziemlich rau, aber herzlich. Von Frieda kannte ich einige derbe Ausdrücke, aber im Vergleich
zu dem, was ich nun zu hören bekam, war das Zuckerguss gewesen. Und was Bauarbeiter über den Staat dachten, das war schon
sehr aussagekräftig. Sie hatten keine Angst, offen ihre Meinung zu äußern. So imitierten sie mit Vorliebe den Staatsratsvorsitzenden
Walter Ulbricht, machten sich lustig über seinen «nationalen Weg zum Sozialismus» durch «Überholen, ohne einzuholen», konnten
stundenlang darüber streiten, wenn Spitzbart davon gesprochen hatte, dass auch die Architektur in der DDR national zu sein
habe. Mit einer derart unverstellten Art des Sprechens war ich bislang selten konfrontiert worden, und mir wurde im Nachhinein
klar, warum der Volksaufstand am 17. Juni 1953 größtenteils von Bauarbeitern ausgegangen war.
In der Oberliga galt ich als einer der schnellsten Außenstürmer, lief elf Sekunden auf hundert Meter. Der Berger sei «pfeilschnell»,
hieß es. Im Jahr 1963 wurde der SC Lok jedoch ebenso wie der andere Leipziger Oberligaclub aufgelöst und ein neuer gegründet,
der SC Leipzig, zu dem man die vermeintlich besten |61| Spieler des Bezirks delegierte. Der Rest kam bei der zweiten Oberliga-Neugründung, der BSG Chemie Leipzig, unter. In der ersten
Saison 1963/64 wurde allerdings Chemie DD R-Meister , der SC nur Dritter – welch eine Pleite für die Funktionäre, die geglaubt hatten, den Fußball planen zu können! Das ganze
Verwirrspiel um Vereinsgründungen und -umbenennungen rührte übrigens noch von der Nachkriegszeit her, als die sowjetische Besatzungsmacht den Großverein VFB Leipzig aufgelöst
und enteignet hatte.
Ein guter Fußballer zu sein, das bedeutete ab einem bestimmten Niveau auch, für internationale Begegnungen ins Ausland reisen
zu dürfen – was für mich selbst später als Trainer noch eine starke zusätzliche Motivation ausmachte. Als Sechzehnjähriger
war ich in die Juniorenauswahl gekommen. Bei sämtlichen Länderspielen wurde ich eingesetzt, sei es gegen Rumänien, Bulgarien
oder Polen. Und als Achtzehnjähriger – ich war inzwischen ebenfalls in die Männermannschaft des SC Leipzig delegiert worden
– konnte ich sogar in kapitalistische Staaten wie Großbritannien und Portugal mitfahren. Einmal, während einer Reise in die
Sowjetunion, durfte bei der Stadttour durch Moskau natürlich der obligatorische Besuch des Lenin-Mausoleums am Roten Platz
nicht fehlen. Nach der Besichtigung sah man mich erwartungsvoll an und fragte mich, was ich beim Anblick von Lenin «gefühlt»
hätte. Meine Antwort: «Na, der lag da wie Schneewittchen im Sarg.» Das kam nicht besonders gut an. Als wir dann gegen eine
Mannschaft aus Moskau (in kyrillischen Buchstaben Москва) antraten, lagen wir zur Halbzeit bereits deutlich zurück. Auf der
Anzeigentafel war der Spielverlauf dokumentiert: «Москва 1 : 0 – Москва 2 : 0 – Москва 3 : 0.» Daraufhin schimpfte in der Kabine einer der älteren Mitspieler, die in der Schule noch kein Russisch gehabt hatten: «Also,
wenn dieser Mockba noch ein Tor schießt, werde ich verrückt!»
|62| Schule, Bau, Fußballplatz – ich konnte ja ganz gut rennen, aber im Grunde rannte ich nur noch. Innehalten und einmal tief
durchatmen, daran war nicht zu denken. Sobald eine Tätigkeit zu Ende war, musste ich direkt an die nächste
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