Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
Vom Netzwerk:
wunden Punkt zielsicher zu entdecken.
    «Und was für einen Beruf hast du vor Augen?»
    Ich hatte mir darüber schon Gedanken gemacht, aber ich traute mich kaum, das Wort auszusprechen: «Maurer.»
    «Maurer! Du? Du hast doch zwei linke Hände. Wie soll das gehen?»
    Das stimmte. Dennoch überzeugte ich sie von meinem Vorhaben, weil ich danach würde Architektur studieren können. Und so radelte
     ich kurz darauf mit dem Fahrrad zu der entsprechenden Schule und meldete mich selbst an, das lief bemerkenswert unbürokratisch
     ab.
    In diesem Sommer fuhr ich mit meinen Eltern nicht in den Thüringer Wald, sondern zum ersten Mal an die Ostsee, nach Prerow
     auf dem mecklenburgischen Darß. Wir übernachteten in einer |58| Pension, aber eigentlich brachte ich fast die ganze Zeit am Strand zu. Dort hatte ich Anschluss an eine Gruppe von Rettungsschwimmern
     gefunden, mit denen ich mich sehr gut verstand und viel Spaß hatte. Das Leben war ungezwungen, abends wurden Würstchen gegrillt,
     und oft blieben wir die ganze Nacht am Lagerfeuer sitzen. Da ich in der Pension ein separates Zimmer hatte, fiel es nicht
     auf, wenn mein Bett unbenutzt blieb und ich erst zum Frühstück erschien. Unter meinen Strandbekanntschaften hatte es mir besonders
     eine attraktive, fast zehn Jahre ältere Rettungsschwimmerin angetan. Und die Anziehung blieb nicht einseitig. Durch meine
     erfahrene Geliebte entdeckte ich das andere Geschlecht auf eine Weise, die mir bis dahin unbekannt gewesen war. Und so bedeutete
     dieser Urlaub auch in einer weiteren Hinsicht eine Premiere für mich.
    Mein Abenteuer blieb nicht ohne Konsequenzen, die allerdings erst einige Monate später offenbar wurden. Im Herbst stand die
     junge Frau vor unserer Wohnungstür. Sie behauptete gegenüber meiner Mutter, sie sei schwanger, und zwar von mir. Das sei im
     Sommer an der Ostsee passiert. Ich selber ahnte von diesem Auftritt nichts, denn als sie bei uns klingelte, war ich nicht
     zu Hause, sondern absolvierte mein übliches Training.
    Meine Mutter reagierte skeptisch auf die Enthüllung, rechnete die Monate genau nach und betrachtete zudem eingehend den Bauch
     der Schwangeren. Für sie passte da etwas nicht ganz zusammen. Außerdem entlockte sie der werdenden Mutter, dass in diesem
     Sommer noch andere Männer in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten. Nun wusste sie genug und redete so überzeugend auf meine
     «Rettungsturmliebe» ein, dass diese irgendwann selbst nicht mehr glaubte, dass das Kind, welches sie erwartete, von mir sei.
     Am Ende verabschiedete sie sich von meinen Eltern fast entschuldigend – und meldete sich nie wieder. Wahrscheinlich hatte
     sie einfach nur einen Vater für ihr Kind gesucht und es bei mehreren probiert.
    |59| Im Gegensatz zu meiner Mutter konnte sich mein Vater über diesen Vorfall kaum beruhigen. Als ich nach dem Training in die
     Wohnung trat, empfing er mich mit den Worten: «Junge, um Gottes willen, hast du etwa schon mit einem Mädchen geschlafen?»
     Was sollte ich darauf schon sagen?
    Den nächsten Urlaub verbrachte ich daraufhin ohne meine Eltern.
     
    Nach den Sommerferien erhielt ich die Nachricht, man habe mich an der Schule, an der ich die Berufsausbildung mit Abitur machen
     konnte, angenommen. Im vierzehntägigen Wechsel war ich nun mal Lehrling, mal Schüler. Gleichzeitig kam ich aufgrund meiner
     Leistungen als Fußballer in den Genuss einer Sonderregelung: Am frühen Nachmittag sollte ich mein Training fortsetzen, das
     bedeutete, ab diesem Zeitpunkt war ich von allen anderen Aufgaben befreit. Weiterhin durfte ich sämtliche Lehrgänge besuchen,
     die mit Fußball zu tun hatten. Gute Sportler waren dem Staat sehr wichtig und wurden intensiv gefördert, was aber nicht hieß,
     dass man Schule und Ausbildung schleifenlassen konnte. Es war deshalb manchmal sehr anstrengend, alles unter einen Hut zu
     bringen – aber es lohnte sich auch.
    Sehr schnell begriff ich, dass ich durch meine Leistungen im Sport Vorteile hatte und dass ich diese sichern konnte, wenn
     ich mich entsprechend verhielt. Der größte Vorteil war für mich damals, nicht in die üblichen Ausbildungsschemata gepresst
     zu werden, mit meinen Ausnahmeregelungen mehr Freiheiten als andere zu besitzen. Nicht auffallen, lautete also die Devise.
    Da die Baustellen häufig außerhalb von Leipzig lagen, musste ich oft morgens um sechs Uhr im Zug sitzen, um bei Arbeitsbeginn
     rechtzeitig vor Ort zu sein. Im Winter hatte ich meist Wattejacken und -stiefel

Weitere Kostenlose Bücher