Meine zwei Halbzeiten
Verpflichtung denken.
Das Training ging bis achtzehn Uhr, falls ich nicht noch eine zusätzliche Übungseinheit hatte, und nach dem Abendessen musste
ich für ein, zwei Stunden Hausaufgaben erledigen. Todmüde fiel ich ins Bett, ich wachte erst auf, wenn der Wecker morgens
um fünf erbarmungslos schrillte.
In dieser Zeit machte ich eine Erfahrung, die mein weiteres Denken beeinflusste. Eines Abends nach dem Training sagte man
mir, ich müsse noch auf eine FD J-Feier , es sei wichtig, dass ich dort erschiene. Aller Wahrscheinlichkeit nach ging es dabei um einen Geburtstag von Lenin oder
einem anderen kommunistischen Führer. Die Deutsche Demokratische Republik war ein Staat, in dem gern gefeiert wurde, und am
besten konnte er sich selbst feiern.
Gut, dachte ich, das wird auch noch zu packen sein. Da ich in meiner allgemeinen Hektik nicht einen Moment an dieses staatstragende
Ereignis gedacht hatte, war es mir vor dem Training nicht in den Sinn gekommen, statt meiner Jeans eine andere Hose einzustecken.
Jetzt war es jedoch zu spät, um nach Hause zu fahren und mich umzuziehen. Nur passte das Blau des FD J-Hemdes überhaupt nicht zu dem meiner schicken Jeans, die ich mir gerade bei einem Auswärtsspiel in Schweden gekauft hatte. Die Kombination
dieser beiden Blautöne – da hätte jeder Blindenhund aufgejault.
Die üblichen Reden wurden gehalten, ich hörte wie üblich nicht zu. Meine Aufmerksamkeit erwachte erst wieder, als es endlich
zum fröhlichen Teil des Abends überging. Auf einmal tippte mir jemand auf die Schulter und gab mir zu verstehen, dass ich
«nach oben» gehen solle. «Nach oben» – das bedeutete, dass ich mich den Genossen zu stellen hatte. Seltsam, bislang hatte
keiner |63| von ihnen jemals etwas von mir gewollt. Ausgefressen hatte ich nichts, jedenfalls nichts, was über meine üblichen kleinen
Tricksereien hinausging. Aber dafür gleich «nach oben» gerufen zu werden?
An einem langen Tisch saßen mehrere Männer mit Parteiabzeichen an ihren grauen Anzügen. Alle schauten auf, als ich vor ihnen
stand. Einer sagte schließlich: «Guckt ihn euch an. Der will unsere Republik vertreten. Will als Sportler ein Vorbild werden.
Guckt ihn euch genau an!»
Ich wusste in diesem Augenblick, dass es um meine Jeans ging. In der Stimme des Genossen vernahm ich einen Ton, der mir unmissverständlich
klarmachte, dass ich gar nicht erst zu versuchen brauchte, eine Entschuldigung hervorzubringen. Man hätte sie einfach nicht
akzeptiert. Zugleich bemerkte ich einerseits einen nicht zu überhörenden Neid, andererseits eine regelrechte Verachtung. Denn
in ihren Augen war es eine Provokation, das Hemd der Freien Deutschen Jugend zu Nietenhosen zu tragen.
«Nur weil ich die Jeans anhabe, muss ich nicht gleich gegen den Staat sein», antwortete ich keck.
Schlagartig wurde es still im Raum. Mir war klar, dass dies nicht der Ton war, den man üblicherweise bei solchen «Unterredungen»
anschlug. Doch ich hatte meinen Stolz: Bis zu einem gewissen Grad hielt ich mich stets an die Regeln, aber jetzt war ich an
eine Grenze gelangt, die ich mir ungern setzen lassen wollte. Ganz egal, ob ich vom Staat oder vom Sozialismus gefördert wurde,
um ein guter Sportler zu werden – meine Klamotten wollte ich mir noch selbst aussuchen.
Eigentlich hatte ich nun mit einer ordentlichen Standpauke gerechnet, doch nichts dergleichen geschah. Derjenige, der die
«Guckt-ihn-euch-an»-Rede geschwungen hatte, murmelte noch irgendeine sozialistische Formel, danach durfte ich wieder gehen.
Zum ersten Mal hatte ich in gewisser Weise aufbegehrt. Ich |64| war über mich selbst verwundert, zugleich spürte ich: Mein Stolz konnte mir noch Probleme bereiten. In welchem Ausmaß das
der Fall sein würde, vermochte ich an diesem Abend nicht einmal zu erahnen.
Kurze Zeit später gab es eine vergleichbare Situation. Ein Parteisekretär meines Vereins, der das Training beobachtete, schrie
mich plötzlich an: «So sieht kein sozialistischer Sportler aus! Diese Stemmeisen hier!» Er meinte meine Koteletten.
«Meine Haare gehen Sie gar nichts an», antwortete ich trotzig. Vielleicht spielte ich zu gut, um wegen solcher Erwiderungen
degradiert zu werden, vielleicht hatte ich einfach nur Glück.
Meine Kollegen von der Baubrigade interessierte es sehr, wenn ich ein Spiel im Westen hatte. Sie wollten alles wissen, besonders
neugierig waren sie, zu erfahren, ob ich denn auch Pornohefte und -filme zu
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