Meine zwei Halbzeiten
auch die
Person war, für die ich mich ausgab. Weiterhin interessierten sie sich für sämtliche Einzelheiten der Flucht. Nach mehreren
Stunden stieg in mir das Gefühl auf, vollkommen durchleuchtet zu werden. Ich hatte den Eindruck, dass es sich eher um |162| ein Verhör als um eine Befragung handelte. War ich etwa bei der Staatssicherheit gelandet?, überlegte ich zwischendurch, als
ich vor Erschöpfung kaum noch reden konnte. Nachträglich verstand ich das Vorgehen: Immerhin konnte man mich in die Bundesrepublik
eingeschleust haben, um Sportspionage zu betreiben, um den westdeutschen Fußball auszukundschaften. Abwegig war so eine getarnte
Flucht nicht, es hatte auf anderen Gebieten Fälle dieser Art gegeben.
Nachdem ich alle Fragen beantwortet hatte, baten mich die Nachrichtendienstler, das Gesagte aufzuschreiben und einen Lebenslauf
zu verfassen, um ihn mit den Informationen zu vergleichen, die sie schon über mich hatten. Anschließend gab mir der BND deutlich
zu verstehen, dass meine Situation alles andere als ungefährlich sei. Man händigte mir die Telefonnummer einer Kontaktperson
aus und forderte mich ausdrücklich dazu auf, dort sofort anzurufen, wenn ich mich bedroht fühlen sollte.
Moment mal! Ich war im Westen, gerade einen Tag im Aufnahmelager. Wer sollte mich da «belästigen»? Und was bedeutete das eigentlich?
Im Klartext doch wohl: Es konnte möglich sein, dass man mich einschüchtern wollte. So nachhaltig, wie mich der westdeutsche
Geheimdienst gewarnt hatte, musste ich das ernsthaft in Erwägung ziehen – auch wenn man mir trotz zweifacher Nachfrage nicht
sagen konnte, vor wem oder vor was ich mich in Acht zu nehmen hatte. Man ließ nur durchblicken, dass Versuche unternommen
würden, Geflüchtete über bestimmte Mittelsmänner wieder zurückzuholen. Dabei würden die verschiedensten Methoden angewandt.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
Damit waren die Instruktionen über Vorsichtsmaßnahmen jedoch noch nicht zu Ende. Man werde mir, so fuhren die Befrager fort,
auch die Adresse einer Wohnung nennen, einer Scheinwohnung. In meinem zukünftigen Pass werde sie ebenfalls stehen: Kiefernweg
21, in Oberursel, im Nordwesten Frankfurts. Ich könnte |163| auch Post unter der Adresse empfangen, ein Briefkasten werde unter meinem Namen existieren.
«Und was bedeutet eine solche Scheinwohnung?», fragte ich.
«Sie sind auf diese Weise offiziell angemeldet, können eine feste Adresse angeben, aber woanders leben. Es ist dann nicht
so leicht, Sie ausfindig zu machen. Außerdem können Sie im Frankfurter Raum bleiben, denn sonst werden Sie vom Aufnahmelager
einem Bundesland zugeteilt.»
Später, als ich bei Eintracht Frankfurt trainierte, suchte ich mehrmals den Kiefernweg 21 auf. Es war die Hausnummer eines
Wohnheims. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich unter dieser Anschrift aber nie Post bekommen. In meinen Stasiakten fand
ich eine Notiz über dieses Wohnheim. So «geheim» operierte der BND – die Mielke-Behörde wusste schon nach einer Woche, wo
ich übernachtete und mit wem ich Skat spielte.
Die Befragung beendeten die Männer vom Bundesnachrichtendienst mit den Worten: «Wir möchten darüber informiert werden, wo
Sie sich in nächster Zeit aufhalten und was Sie machen. Teilen Sie uns das alles über die Telefonnummer mit, die wir Ihnen
gegeben haben.»
Es war kurios, dass ich nun eine Adresse hatte, dort aber nicht wohnen konnte, obwohl sie in meinem Pass stand. Mit anderen
Worten: Ich musste offenbar vom BND beschützt werden – dies war eine schockierende Erkenntnis. Allerlei Ängste stiegen in
mir auf, und wie ich später feststellen musste, waren sie nicht unberechtigt.
Kurz danach setzte ich mich in den Zug nach Frankfurt. Der Deutsche Fußball-Bund hatte mir eine Karte für das Bundesligaspiel
der Eintracht an diesem Mittwochabend besorgt.
Der Besuch meines ersten Bundesligaspiels – genau eine Woche nach meiner Flucht – war ein Erlebnis, das verarbeitet werden
musste. Meine anfängliche Selbstsicherheit schien beim Anblick des Waldstadions, der heutigen Commerzbank-Arena, fast |164| in den Keller zu rutschen. Das Stadion schüchterte mich noch weitaus mehr ein als das Gebäude des DFB – überall Glas und Stahl
und fast komplett überdacht.
In der DDR gab es keine vergleichbare Sportarena. Zur damaligen Zeit war das Leipziger Zentralstadion das größte – doch aus
Schutt erbaut. Auch war es nirgends
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