Meineid
Injektion vertrugen. Außerdem waren insgesamt nur noch sieben Tabletten in der Packung. Samstags bekäme sie nirgendwo ein neues Rezept. Ich fühlte eine so entsetzliche Kälte in mir, konnte nicht fassen, was in den letzten Stunden geschehen war. Tess war tot und Greta blass, übernächtigt, mit ihren Nerven am Ende. Aber sie hielt sich ausgezeichnet. Nur das Händezittern verriet sie, wenn sie ihre Tasse zum Mund führte. Ich begann so sachlich wie möglich. Dass ich ihr die strafrechtlichen Konsequenzen einer Falschaussage und die damit verbundenen Auswirkungen auf ihre Karriere nicht vor Augen halten musste, wusste ich. Ich tat es trotzdem. Anschauen konnte ich sie nicht, hielt den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet.
«Du weißt, was auf dich zukommt, wenn das, was du vorhast, schief geht. Und das wird es. Du stehst es durch, daran habe ich keine Zweifel. Aber er nicht.»
«Wenn er ein paar Stunden geschlafen hat, geht es ihm besser, meinte sie.
«Und du wirst ihn nicht noch einmal … Ich lasse nicht zu, dass du ihn völlig fertig machst.»
«Das muss ich auch nicht», sagte ich.
«Das wird Karreis übernehmen. Sei vernünftig, Greta. Noch hast du kein Protokoll unterschrieben. Du hast eine Aussage gemacht, aber du warst dabei emotional – sagen wir, du warst hin-und hergerissen zwischen ihr und ihm. Beide waren sie deine Freunde. Für Tess konntest du nichts mehr tun, da wolltest du wenigstens ihm helfen. Es lässt sich alles erklären. Ich sehe kein Problem, deine Aussage zu berichtigen, wenn du es rasch tust. Ich werde dich begleiten.»
«Nein!»
Es hörte sich an wie ein Hammerschlag. Ich ignorierte die Härte in ihrer Stimme.
«Wie du möchtest. Du kannst natürlich auch alleine zum Präsidium …»
«Nein!»
Der zweite Schlag, weitaus kräftiger als der erste. Ich schaute weiter zur Zimmerdecke hinauf.
«Greta, willst du alles aufgeben, was du dir aufgebaut hast? Karreis hat dir kein Wort geglaubt, aber er hat dir doch eine goldene Brücke gebaut. Der Gerichtsmediziner meinte, der Tod sei etwa gegen siebzehn Uhr eingetreten, plus minus einer Stunde, die übliche vorläufige Schätzung. Was machst du, wenn sich bei der Obduktion herausstellt, dass Tess um sechzehn Uhr starb? Um die Zeit warst du laut deiner Aussage im Haus. Warst du tatsächlich dort? Warst du dabei? Ich meine, hast du gesehen, wie er sie …»
Ich konnte es nicht aussprechen. Sie antwortete mir nicht.
«Du willst also bei dieser Aussage bleiben?, fragte ich.
«Ja!»
«Du erinnerst dich an unser Gespräch von heute Mittag?, fragte ich.
«Gespräch?, spottete sie.
«Wie dezent du das ausdrückst. Das habe ich immer an dir bewundert, Niklas, früher schon. Niemals ein krasser Ausdruck und auf keinen Fall Straßenjargon! Dir wurde das Lexikon der schönen Worte in die Wiege gelegt.»
Ihr Sarkasmus war nicht echt, sie wirkte so zerbrechlich. Ich senkte endlich den Blick, schaute ihr ins Gesicht.
«Glaub nicht, dass ich dich nicht verstehe, Greta», sagte ich.
«Ich weiß, was du für ihn empfindest. Du siehst im Moment nur die einmalige Chance. Du bewahrst ihn vor dem Gefängnis, da kann er dich nicht mehr von der Bettkante stoßen. Aber Tess hat dir doch auch etwas bedeutet. Hast du ihre Wunden gesehen?»
Sie biss sich auf die Lippen und murmelte:
«Hör auf, Niklas. Quäl dich nicht so.»
Ich hatte eher den Eindruck, dass ich sie quälte, und hörte nicht auf. Ich fühlte mich schäbig dabei, niederträchtig und hinterhältig. Das hatte ich mit Jan veranstalten wollen, nicht mit ihr. Ich beschrieb ihr die Verletzungen. Ein Stich seitlich in den Hals – wie bei Jans Mutter, nur nicht so tief. Die Schlagader war nicht getroffen. Sonst hätte man auf der Terrasse im Blut waten können. Ein weiterer Stich in den Kehlkopf. Nach Meinung des Gerichtsmediziners konnte das der erste gewesen sein, um Tess am Schreien zu hindern. Und ein Stich direkt ins Herz. Unter den Rippen angesetzt und schräg nach oben getrieben. Es waren exakt die Stiche, die Jan mehrfach überaus präzise beschrieben hatte. Für Tess musste es völlig überraschend gekommen und wahnsinnig schnell gegangen sein. Abwehrverletzungen an den Händen gab es nicht. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich zu wehren. Der Gerichtsmediziner hatte mir erklärt:
«Wer das getan hat, wusste genau, was er tat und wie er es tun musste. Das war eine Sache von zehn Sekunden, höchstens fünfzehn. Zack, zack, zack. Man braucht ein langes und intensives Training, um seine
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