Meineid
wiederholte, die Tess aufgestellt hatte – ein verschlossenes Arbeitszimmer, vielleicht eindeutige Geräusche hinter der Tür, so genau hatte Tess es mir ja nicht erklärt.
«Das ist infam. Das hat sie niemals gesagt! Du lügst, Niklas. Du willst mich …»
«Ich habe keinen Grund, dich zu belügen», sagte ich.
«Und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass Tess mich belog.»
«Aber es ist nicht wahr!, fuhr Greta erneut auf.
«Wir haben nie die Tür abgeschlossen! Das hätte sich kaum gelohnt für die paar Minuten. In den letzten Wochen war ich doch meist mit ihr zusammen. Im Arbeitszimmer war ich nur, um Jan zu begrüßen und mich zu verabschieden. Und vorher, wenn sie gelauscht hat, muss sie auch gehört haben, dass wir uns unterhielten – über seinen Roman, über nichts anderes.»
Greta schüttelte den Kopf.
«Ich glaube das nicht. Ich glaube es einfach nicht.»
«Aber es war so», sagte ich. Ich hatte Tess’ Stimme noch im Ohr, den gequälten Ton, als kämpfe sie mühsam um Beherrschung. Als ich wiederholte, was sie sonst noch gesagt hatte:
«Wenn ich auspacke …, biss Greta sich an dem Telefongespräch um halb vier fest. Es stand für sie völlig außer Frage, dass ich Tess noch einmal angerufen hatte. Seit dreieinhalb Jahren versuchte ich, etwas gegen Jan in die Hände zu bekommen. Da gab ich mich doch mit einer Andeutung nicht zufrieden, ließ mich nicht auf später vertrösten. Dass mich Einzelheiten zu meinem Lieblingsthema: ‹Jan, der Killer›, in dem Moment nicht so interessiert hatten, glaubte Greta mir nicht. Aber so kamen wir zurück zum Kernpunkt, den vier Seiten, die ich auf dem Tisch gefunden hatte und die meines Erachtens deutlich machten, dass Tess in Gefahr gewesen war.
«Du bist verrückt, stellte Greta fest.
«Der Tod seiner Mutter ist real, er hat daraus eine Romanszene gemacht, widersprach ich.
«Wie viel Realität hat er darüber hinaus noch verarbeitet? Besser, ich erfahre es von dir als von Karreis. Und dass Karreis ihn jetzt auseinander pflücken wird, ist dir hoffentlich klar.»
Greta war sich bewusst, dass die Polizei Jans Vergangenheit durchleuchtete. Aber was sollte Karreis schon Alarmierendes entdecken? Die bigotte Großmutter mit ihren feinsinnigen Erziehungsmethoden, die barmherzigen Schwestern im ersten Heim und die liebevollen Erzieher in den nachfolgenden hätten vielleicht einen erfahrenen Kriminalpsychologen nachdenklich gemacht, nur waren sie vermutlich nicht aktenkundig. Greta war nur überzeugt, dass die Misshandlungen den Tatsachen entsprachen. Niemand, der es nicht selbst erlebt hatte, konnte derartige Grausamkeiten in der Art beschreiben, wie Jan es tat. Diese dünne, dürftige Sprache, die nicht auszudrücken vermochte, wie viel Leid in jedem Satz steckte. Und gerade das, was nicht ausgesprochen wurde, machte es für sie greifbar. Es erklärte sogar Jans verschlossenes Wesen. Ein schwer erziehbares Kind hatte es geheißen, weil er sich hin und wieder gegen den Terror auflehnte. Dementsprechend waren die Anstalten, in denen man ihn unterbrachte. Wenn er eines gelernt hatte in seiner Kindheit und Jugend, dann das: Darüber reden und sich wehren half nicht, es machte alles nur schlimmer. Man musste es wegschließen, durfte es nie ausbrechen lassen, weil man dann daran zerbrach. Erniedrigungen, Angst und Schmerzen, Eintönigkeit, Hoffnungslosigkeit, das alles musste Jan am eigenen Leib erfahren haben. Aber er wollte nicht, dass jemand davon erfuhr. Deshalb schrieb er nicht in der Ichform. Der vierjährige Junge, der sich angstvoll in eine Küchenecke drängte, als seine Mutter schimpfte und tobte, hieß im Roman Axel Berle. Greta erklärte mir nicht mehr als unbedingt nötig. Kinderheime ja, auch ein paar Misshandlungen, aber kein Wort über sexuellen Missbrauch. Ich hörte schweigend zu. Sie ging davon aus, dass mit der Szene, die Axel Berles Entlassung aus dem letzten Heim beschrieb, die Fiktion begann. Weil es von da an absurd wurde und über weite Passagen so vage gehalten war, als habe Jan nicht weitergewusst. Da war eine Zeitspanne von zehn, zwölf Jahren zu überbrücken. Eine wichtige Zeit für die Entwicklung der Romanfigur Axel Berle. Es musste ein Bogen gespannt werden von den Erniedrigungen und dem Hass der frühen Jahre bis zum Erwachsenen, der eine neunzehnjährige Frau auf bestialische Weise tötet. Der nach diesem Mord gefasst und vor Gericht gestellt wird. Den der psychiatrische Gutachter dazu bringt, auch den Mord an der eigenen
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