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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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Schwiegervater wesentlich schlechter« – das ist Kurt, der wunderbare Kurt! – »ein alter Ast wird morsch und brüchig, ein neues junges Zweiglein ist schon angesetzt am Klamroth-Baum. Es ist sehr eigenartig, dieses gleichzeitige Erleben von Werden und Vergehen in nächster Nähe. Der arme Großvater ist geistig kaum noch klar und fühlt sich verfolgt. Gestern abend spät erschien er auf dem Balkon vorm Wohnzimmer, da die andere Tür bewacht würde!! Und dann kam plötzlich ein lichter Moment: ›Else, ich werde verrückt, es ist schrecklich, aber ich werde verrückt!‹ Grenzenloses Mitleid packt mich mit dem so liebevollen alten Mann.«
    »19. Juli abends – Wir warten weiter. Es wäre ja nicht so schlimm, wenn die verfluchten Alarme nicht wären!«
    »21. Juli, kurz nach Mitternacht – Nun ist es also so weit. Die Wehen kommen schon in ziemlich kurzen Abständen, um halb 12 rief ich die Hebamme an, jetzt viertel nach 12 kam sie. Der Rundfunk meldet Störflugzeuge im Anflug auf Mark Brandenburg und Kampfverbände über Westdeutschland. Ob wir wohl ohne Alarm davonkommen? Gestern nacht, als Du anriefst, Bernhard, fand ich Dich so sehr, sehr ernst am Telefon. Ich mochte nicht fragen. Das Attentat auf den Führer bewegt uns natürlich alle sehr. Ich hörte mir nachts die Ansprache des Führers an, und wenn Du ja auch mit der Sache nichts zu tun hast, so wird doch nach dieser Ansprache der ganze Generalstab mehr oder weniger mit hineingezogen, und das ist natürlich Anlaß zur Sorge. Ich sagte Ursula nichts davon, aber heute im Verlauf des Tages hat sie es natürlich gehört. Dramatischer kann wohl kaum ein Zeitpunkt sein, um auf diese aus den Fugen geratene Welt zu kommen. Ursula kam so gegen halb elf rauf zu mir, unglücklich und in Tränen. Natürlich hat sie Angst, und Du bist so weit, Bernhard, und die Nachrichten sind so beunruhigend und die Sorge ist so groß. Dann rief aber um elf Uhr Albrecht von Hagen an und bestellte Grüße von Dir, und das half.«
    »22. Juli, 1 Uhr morgens – Eben bekommen wir Vollalarm« – Else nimmt offenbar die Schreibmaschine mit in den Luftschutzkeller –, »die Wehen werden heftiger. Die Feindmaschinen sind über Berlin, auf dem Rückflug werden sie wohl hier vorbeikommen, meint der Drahtfunk aus Dessau. Die Wehen kommen in kurzen Abständen. Meine feige, kleine Ursula, die beim leisesten Schmerz ein solches Theater machte, ist so tapfer, ich bin wirklich sehr stolz. Hans Georg, der heute abend gekommen ist, läßt sich nicht sehen. Ich bin überzeugt, die Angst, Ursula in Schmerzen zu sehen, ist größer als seine Angst vor den Engländern. Es ist ja auch nicht schön!! Und dazu die schweren und drückenden Sorgen! Aber Ursula ist nur mit ihrem elementaren Naturereignis beschäftigt, und das ist gut. Es verlangt ja auch den ganzen Menschen!«
    »Ursula mußte heute abend Rizinusöl einnehmen, sie beschloß, daß Du das nächste Mal wenigstens das mit ihr teilen solltest, Bernhard! Freu Dich drauf. Das Öl beginnt zu wirken, und dadurch werden auch die Wehen heftiger. Diese Eröffnungswehen sind bei weitem die schlimmsten und unangenehmsten. Ach, wenn Ursula doch so leicht gebären könnte wie ich. Aber beim ersten Kind dauert es eben, das war bei Barbara auch so. Hans Georg lief eben oben verzweifelt rum ›Ich bin aber nicht schuld! Ich bin aber nicht schuld!!‹ Ich habe ihn etwas zu trösten versucht, er will nun zu schlafen versuchen, er kann ja doch nichts machen. Alles ist in Ordnung und normal – hart und schwer und schmerzhaft ist es ja nun mal, nicht leicht mit anzusehen. Lieber selber!! Eben gab es Entwarnung. Wenigstens das hätten wir geschafft.«
    »1/2 4 – wir sind immer noch nicht weiter. Ursula muß sich sehr quälen, sie stöhnt und wimmert leise vor sich hin. Sie schlummert jetzt mal so ein bißchen zwischen den Wehen, aber das sind ja immer nur ein paar Minuten. Ob wohl der arme alte Großvater noch richtig erfaßt, daß heute die vierte Generation in sein Haus einzieht, sein Urenkelkind? Mir fällt beiläufig ein, ich glaube, es war bislang auch nicht üblich, daß eine Großmutter in langen dunkelgrauen Hosen und mit einer blauen Jacke und Händen in den Hosentaschen die Geburt des Enkelkindes miterlebt. Ich habe eben noch mal wieder Kaffee gekocht.«
    »4 Uhr 10 – Inzwischen ist sie wieder auf und wandert ruhelos umher. ›Ach, Mutti, wie gut, daß Bernhard nicht hier ist! Ach Mutti, Mutti, wie tut das weh!‹ Das ist der Refrain.

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