Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
dachte Albert und schnippte Asche in das Rinnsal Wasser vor ihm, das sie in die Dunkelheit davontrug, letzten Endes lief alles auf dasselbe hinaus: Fred starb, und da war es einerlei, ob er begriff, wer Albert war und wer er für Fred sein könnte, Fred würde sterben, egal ob Albert ihn Papaaa nannte oder nicht, drei Monate noch, dann war es vorbei, und es wäre töricht, an die Wohlfühl-Begründung zu glauben, Albert habe das »Richtige« getan, weil er zu dieser Möchtegernodyssee aufgebrochen war.
Es war doch kaum richtig, den eigenen Vater erheblichen Gesundheitsrisiken auszusetzen.
Gerne hätte er Schwester Alfonsas Meinung dazu gehört. An sie dachte er stets mit einer Mischung aus Unglauben, Empörung und Melancholie. Im Umgang mit Waisen war sie großartig, auf ihre Art, allerdings hatte sie die lästige Angewohnheit, Weisheiten zu verzapfen, denen sie allzu oft dasnervigste aller Versprechen hinterherschickte: »Das wirst du schon noch verstehen. Eines Tages. Wenn du groß bist.«
Albert war nun groß, und etwas übergewichtig, und Raucher, und er hatte seinen Vater, der sich für keinen Vater hielt, an einem viel zu heißen Sommertag in die rechteckige Kanalisation einer bayerischen Gemeinde begleitet, um herauszufinden, wo dessen Gold herkam. Und er hatte bloß fünf Zigaretten übrig. Und er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seitdem Fred allein aufgebrochen war. Auf Alberts Rufen hatte er bisher nicht reagiert. Was, wenn Fred ihn brauchte?
Um auf andere Gedanken zu kommen, öffnete Albert Freds Rucksack und wühlte darin herum. Als Erstes stieß er auf das silberne Lexikon. Damit hatte er gerechnet. Und die Blechbüchse mit dem Gold wunderte ihn auch nicht weiter. Dafür umso mehr eine Kondolenzkarte. Auf ihr war der Abdruck einer Hand abgebildet, fünf Finger. Eine Kohlestiftzeichnung. Starke Licht-Schatten-Kontraste, schmutzig-grauer, nebeliger Hintergrund, ein mit kräftigen Strichen gezeichneter Rahmen. Aber etwas stimmte nicht, die Hand war in dem Bild gefangen, als wäre ihr Abdruck nicht auf dem Papier hinterlassen, sondern würde sich von der anderen Seite durchdrücken. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte Albert, dass die Zeichnung ein Original war, und er fragte sich, wie eine solche Arbeit in Freds Besitz gelangen konnte. Auf der Rückseite stand in dessen krakeliger Handschrift:
Mama sagt dass älter werden trotzdem immer jünger sein heißt aber ich weiß nicht ob das gut ist..
Den Spruch kannte Albert längst, er gehörte zu Freds Standardrepertoire. Was ihn irritierte, waren die zwei Punkte. Sie starrten ihn an wie ein Paar Knopfaugen, weder markierten sie einen Schluss noch deuteten sie Weiterführendes an. Sturund auf beunruhigende Weise falsch saßen sie nebeneinander. Albert leckte seinen Daumen und versuchte, einen von ihnen zu löschen, verwischte aber nur beide und stattete sie mit einem Schweif aus.
Was, wenn Fred ihn jetzt brauchte? Ein weiteres Mal rief Albert nach ihm, horchte, erhielt keine Antwort. Er steckte die Karte zurück. Jedes Kind wusste, wenn man verlorenging, sollte man nicht herumwandern, sondern an Ort und Stelle bleiben,
warten
, dachte Albert – und lief los.
Das hielt er für richtiger.
Berlin-Tempelhof
Albert lief und stoppte, er lief und stoppte. Das diffuse, durch Abflüsse und Gullydeckel hereinfallende Licht reichte immer nur ein paar Meter weit und verlor sich rasch im Dunkel, und dann musste Albert sich mit ausgestreckten Armen bis zur nächsten Lichtquelle vorantasten. Die Kanalrohrwände fühlten sich so glitschig an, wie sie aussahen. Zunächst bog Albert an jeder Weggabelung rechts ab, bald aber verwarf er seine Taktik, als er feststellte, dass er im Kreis gelaufen war.
Seine Rufe beantwortete das Echo mit
Eed
.
Am Ende eines schmalen Gangs sah er Licht. Er ging darauf zu und stieß auf einen Ausgang, den ein Metallgitter versperrte, in dem sich Pflanzenreste verfangen hatten, die aussahen und rochen wie Seetang. Dahinter Wald. Albert atmete ein und genoss die frische, kühle Luft. Schon eineganze Weile hatte er kein Auto mehr gehört. Möglich, dass er sich im Moor befand. Alle Wege aus Königsdorf heraus führten durchs Moor. Er rüttelte am Gitter; es ließ sich etwas bewegen, seine Halterungen wirkten nicht sonderlich stabil. Albert wollte nicht sein Leben riskieren, indem er durch irgendeinen Schacht nach oben stieg, von dem er nicht wusste, ob er ihn auf eine Straße führte, auf der die Einheimischen mit
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