Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
sich vor den kreischenden Schlammgeist und legte den Kopf in den Nacken, um ihn in seiner Gesamtheit zu betrachten. Als sie sprach, hallte in ihrer Stimme dieses schreckliche, staubtrockene Lachen mit.
»Du glaubst, damit kannst du uns besiegen?«
Der schwarze Schleim erstarrte mitten im Schrei und blieb einfach nur zitternd in der Luft hängen. Nico beobachtete ihn einen Moment, dann hob sie eine knochige Hand, legte sie an ihre Kehle, und die Temperatur im Raum fiel dramatisch.
Mit einer geschmeidigen Bewegung warf Nico ihren Mantel zu Boden. Unter seinen weiten Falten war sie klapperdürr. Ihr fadenscheiniges Hemd hatte keine Ärmel, und ihre knochigen Arme hingen herunter wie spröde Äste an einem krummen Stamm. Ihre silbernen Fesseln erstrahlten in fadem Licht und warfen seltsame Schatten über den säureverbrannten Boden, als sie die Hand hob, um ihren Hut abzunehmen.
»Nico …« Elis Tonfall war warnend, aber falls sie ihn überhaupt hörte, ignorierte sie ihn. »Dieses dumme Mädchen«, flüsterte er.
Miranda blieb keine Zeit für die Frage, was er damit meinte. Ohne den Mantel war die Aura des Mädchens beängstigend. Sie strahlte die gleichgültige Bedrohlichkeit eines Raubtiers aus, und Mirandas Instinkte schrien ihr zu, sie solle weglaufen, bloß fort von hier. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Eine tiefe, irrationale Angst vom Anbeginn der Zeit hatte die Luft in Sirup verwandelt und ihre Seele gefangen wie ein Wolf einen Hasen. Sie konnte nur in ihrer Nische kauern und alles beobachten, die ätzende Luft atmen und darauf warten, dass die Bedrohung an ihr vorüberging oder sie tötete. Zum ersten Mal verstand sie, warum alle Geister eine Dämonenbrut fürchteten und warum Gin so vehement darauf bestanden hatte, das Mädchen zu töten, egal, wie klein oder kontrolliert sie zu sein schien.
»Kannst du sie nicht aufhalten?«, flüsterte Miranda durch zusammengebissene Zähne.
»Nur Josef kann sie aufhalten, wenn sie so wird.« Eli drückte sich so tief in seine Nische, dass Miranda ihn nicht mehr sehen konnte. »Du solltest dich besser ducken«, flüsterte er.
Nico streckte die Arme aus und lockerte ihre Schultern. Mit einem lauten Knacken lösten sich nacheinander die dicken Bänder um ihre Handgelenke, ihre Knöchel und ihren Hals. Jedes Mal klammerte sich das Silber noch einen Moment mit einem wütenden Schrei an ihr fest, aber selbst voll erwecktes Metall kann sich der Schwerkraft nicht widersetzen. Die Metallschellen fielen unter aufgebrachten Flüchen zu Boden. Sobald sie nicht mehr mit ihnen in Kontakt stand, veränderte sich die gesamte Haltung des kleinen Mädchens.
Die Nico, die dort zwischen abgelegter Kleidung und silbernen Fesseln stand, war ein vollkommen anderes Wesen als die Nico, die mit ihnen den Thronsaal betreten hatte. Sie wirkte nicht länger klapprig, sondern tödlich und spannungsgeladen, wie der Draht einer Würgeschlinge. Ihre Bewegungen waren fast träge, als sie langsam Haltung annahm und die nun befreiten Hände vor sich bewegte.
Mit einem leisen Lächeln sah Nico zu dem riesigen Berg aus Schleim auf. Dann schien sich das dämmrige Mondlicht um sie zu biegen, und sie verschwand.
Der Schleim brüllte, als undurchdringliche Schatten über ihn hinwegglitten. Sie schossen über die Oberfläche, erschienen und verschwanden, wie schwarze Hitzeblitze. Es war schrecklich anzusehen, aber Miranda konnte genauso wenig den Blick abwenden wie sich Flügel wachsen lassen und verschwinden. Überall, wo die Schatten den Schleim berührten, verschwanden große Stücke. Es war nicht so, als würden sie davongeschleudert oder als ob die Kreatur sich zurückzog. Wo immer die Dunkelheit landete, lösten Teile des Batzens sich einfach auf. Innerhalb weniger Sekunden wirkte der ätzende Geist wie ein von Mäusen angenagter Keks, und die Angst im Raum war fast greifbar. Die Steine schrien, die dunklen Lampen schrien, die Golddekorationen, die letzten Kunstwerke aus der Schatzkammer, die Glasfenster, die Luft selbst, alles im Thronsaal schrie in wortloser Panik. Die Stimmen stachen in Mirandas Ohren, füllten sie bis zum Bersten, aber sie konnte sich nur fester gegen die kreischende Wand drücken und mit großen Augen beobachten, wie Nico wieder erschien und elegant in der Mitte des Thronsaals landete.
Gregorns Schleim war nur noch halb so groß wie vorher. Er lag jämmerlich wimmernd am hintersten Ende des Raumes, doch er beschützte immer noch das Podium, wie ihm befohlen worden war.
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