Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
Nico dagegen wirkte gesünder, als Miranda sie je gesehen hatte. Ihre Haut war nicht länger bleich, sondern leuchtete fast. Ihr Körper war nicht länger klapperdürr, sondern stark und geschmeidig. Ihre Beine waren länger, und ihr Oberkörper hatte mehr Substanz. Außerdem wirkte sie größer, und die neue Lücke zwischen ihrem Hemdsaum und ihren Hosen bestätigte diese Vermutung. Es schien, als wäre sie um zehn glückliche, gesunde Jahre gealtert, und doch war die raubtierhafte, fesselnde Bedrohung, die von ihr ausging, stärker als jemals zuvor. Sie glitt über den zerfressenen Steinboden, und der ätzende Schleim wich zurück. Aber er gab seine Stellung vor dem Podium nicht auf, nicht einmal, als Nico nur einen Schritt vor ihm stehen blieb.
»Nico!« Elis Stimme war dünn und angestrengt, aber es war schon ein Wunder, dass er überhaupt sprechen konnte. »Tu es nicht, Nico!«
Das Mädchen ignorierte ihn. Stattdessen versenkte Nico mit einem triumphierenden Aufschrei ihre nackte Hand tief in der Mitte der Säuremasse. Bis jetzt hatte Miranda die Stimme des Geistes als lautes Heulen empfunden, doch gegen den jetzt folgenden Aufschrei wirkte dies nur wie ein leises Wimmern. Gregorns Geist zuckte unter Nicos Arm wie ein aufgespießter Fisch und verspritzte in hohem Bogen Säure. Doch trotz seiner Anstrengungen schrumpfte der Geist. Er war jetzt gerade noch doppelt so hoch wie das Podium. Dann war er nicht mehr größer als Gin, und immer noch schrumpfte er, während seine Schreie leiser und leiser wurden. Als der Schleim nicht mehr höher aufragte als Nico selbst, nahm er eine neue Form an. Das pechartige Material zog sich zusammen und teilte sich, um lange Gliedmaßen zu bilden. Rippen erschienen in seiner Mitte, und seine gewölbte Spitze formte einen gerundeten Kopf. Zwei Beine, die kaum mehr waren als Pech auf Knochen, erschienen an seinem Ende, und spitze Schultern führten zu zweigartigen Armen. Schließlich verschwand auch der letzte Rest des Schleims, und Nico stand über der knienden, schwarzen Gestalt eines alten, ausgemergelten Mannes.
Haarbüschel wuchsen aus seinem Kopf, angeklebt von schwarzem Pech, und sein Gesicht war noch menschlich. Tief eingesunkene, trübe Augen sahen flehend zu seiner Bezwingerin auf. Seine rissigen schwarzen Lippen bewegten sich schwach, aber kein Laut drang aus seinem Mund. Schwarze Tränen glitten über die eingesunkenen Wangen des uralten Versklaver-Königs, als er zu ihr aufsah und langsam die knorrigen Hände hob, um Nicos Handgelenk zu umklammern, das aus seiner flachen Brust hervorragte.
Mit einem letzten, grausamen Lächeln riss Nico ihre Hand zurück, und das, was von Gregorn noch übrig war, fiel zu Boden. Er gab keinen Laut von sich, und die letzten Reste seiner menschlichen Gestalt lösten sich in Staub auf, noch bevor sie den verätzten Steinboden erreichten. Nico schüttelte sich den Staub von den Fingern, und Miranda wusste so sicher, als hätte sie selbst über ihm gestanden, dass Gregorns Geist tot war.
»Nico.« Elis leise Stimme ließ Miranda zusammenzucken. Sie hatte nicht gesehen, dass er aus seiner Nische gesprungen war, aber der Dieb stand jetzt nur wenige Schritte hinter der Dämonenbrut. Vorsichtig hob er den Arm. In seiner Hand glänzte die größte von Nicos Fesseln, ihr Halsband. »Das hast du gut gemacht«, sagte er. »Du hast getan, worum Josef dich gebeten hat. Jetzt wird es Zeit, zu uns zurückzukommen.«
Das Mädchen drehte sich langsam um und betrachtete ihn durch zusammengekniffene Augen, die in der Dunkelheit glühten. Es war totenstill im Raum. Alles schien den Atem anzuhalten, während Nico ihn betrachtete.
»Zurückkommen?«
Ihre Stimme war verändert. Die rauhe Trockenheit, die vorher nur ein Flüstern unter ihrer eigenen Stimme gewesen war, hatte jetzt alles übernommen. Die Stimme war so fremd, so seltsam, dass Miranda sie niemals einem Menschen zugeordnet hätte, hätte sie nicht gesehen, wie Nicos Lippen sich bewegten. Nico bewegte sich mit unnatürlicher Eleganz auf den Dieb zu, bis sie nur noch wenige Zentimeter vor Elis ausgestreckter Hand stand. Dann riss sie vollkommen selbstverständlich den Arm zurück und schlug ihn.
Eli versuchte nicht, dem Schwinger auszuweichen. Er bekam den Schlag voll in die Brust und wurde nach hinten geschleudert. Er landete mit voller Wucht auf dem vom Kampf gezeichneten Marmor, und die silberne Schelle rollte ihm aus der Hand. Sobald er den Boden berührte, stand Nico nach einem ihrer
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