Meister Li und der Stein des Himmels
Sie vergöttern
ihren König. Vielleicht verdient er es. Chao ist der Staat in der zivilisierten
Welt, der am besten regiert wird. Aber ihr dürft nie vergessen, daß der König
selbst nicht zivilisiert ist. Shih Hu wurde als Barbar geboren, und seine Seele
bleibt barbarisch. Er kann plötzlich und extrem gewalttätig werden. Es ist
schwer, in seinen Palast hinein-, aber noch schwerer, wieder hinauszukommen .«
Er ritt ein paar Minuten
schweigend weiter. »Soweit ich weiß, hat der König nur eine Schwäche«, sprach
Meister Li nachdenklich weiter, »er sammelt leidenschaftlich Leute mit
ungewöhnlichen Talenten, und ich denke mir, er wird einer lebenden Legende
seine Tore öffnen... etwa jemandem wie dem größten Meister der Wen-Wu-Laute .« Klagende Morgendämmerung und ich sahen uns an. Die
Wen-Wu-Laute ist das schwierigste Instrument der Welt, wenn man sie richtig
spielen will. Wir zuckten nur mit den Schultern.
»Ehrwürdiger Meister, könnt
Ihr das Ding spielen ?« fragte ich.
Er sah uns überrascht an.
»Was hat das Spielen damit zu tun, daß man der größte Meister ist ?« erwiderte er.
10.
Im großen Festsaal des Königs
Shih Hu herrschte eine erwartungsvolle Stille. Die Minuten vergingen. Dann
wurden die Tore aufgerissen, und Lakaien in prächtigen Livreen marschierten
unter schmetternden Fanfarenstößen herein. Ihnen folgte eine Prozession von
Priestern, die Hymnen zum Preis eines Meisters sangen, dessen Genie ihm nur vom
Himmel selbst geschenkt worden sein konnte. Dann tänzelte ein Heer Akoluten
anmutig in den Saal. Sie streuten Rosenblätter. Es folgten zwei ranghöhere
Schüler: ein märchenhaft reicher junger Mann, der alle weltlichen Güter
aufgegeben hatte, um zu Füßen des Meisters zu sitzen, und eine Prinzessin von
königlichem Geblüt, die auf einen Thron verzichtet hatte. Die Prinzessin trug
einen Elfenbeinhocker, und der junge Mann trug auf einem Seidenkissen eine schlichte
schmucklose Laute.
Priester und Akoluten
sangen ihre Hymnen. Die Minuten vergingen langsam. Als die Spannung
unerträglich geworden war, hörte man das leise Geräusch von Sandalen, und
mehrere vornehme Gäste wurden ohnmächtig, als der größte Meister der
Wen-Wu-Laute durch das Portal wankte. Er war mindestens tausend Jahre alt und
ein Halbgott. Ein dichter Bart, der weißer als Schnee war, wallte bis zu den
Knöcheln, und seine buschigen weißen Brauen hoben sich grimmig wie die
Federbüsche einer Ohreule. Sein rauhes Bauerngewand war aus dem billigsten
Tuch, und seine Sandalen waren mindestens fünfzigmal geflickt. An dem frisch
geschnittenen Eichenstock hingen immer noch grüne Blätter. Die Verachtung der
weltlichen Dinge stand ihm nicht nur im Gesicht geschrieben. Überall klebte noch
die verkrustete Erde eines Abhangs, wo er unter den Sternen geschlafen hatte.
Der große Mann schlurfte
langsam durch den Saal zu seinem Elfenbeinhocker, und die Prinzessin half ihm
ehrerbietig, Platz zu nehmen. Der junge Mann kniete nieder und legte dem Meister
die Laute auf den Schoß. Der Heilige schien eine Ewigkeit auf das Instrument zu
blicken und sich stumm mit ihm zu unterhalten. Dann hob er langsam den Kopf.
Stechende schwarze Augen brannten Löcher in die Zuschauer. Ein runzliger Finger
hob sich, und die verknitterte Stimme, die aus dem Bart drang, klang wie das
Summen einer dozierenden Biene, aber in ihr schwang höchste Autorität. »Die
Wen-Wu-Laute«, begann der große Mann, »wurde von Fu-shi erfunden, der mit
ansah, wie ein Meteor in einen Tung-Baum fiel. Bald darauf ließ sich ein Phönix
neben dem Meteor nieder, und als der Meteor mit einem melodischen Zischen
verglühte und der Phönix mit einem kontrapunktischen Schrei davonflog, erkannte
Fu-shih, daß ihm der Himmel ein Zeichen geschickt hatte. Er fällte den Baum,
der genau dreiunddreißig Fuß lang war, und schnitt ihn in drei elf Fuß lange
Stücke. Er legte die Stücke dreiundsiebzig Tage, also den fünften Teil eines
Jahres, in fließendes Wässer. Er klopfte auf das
oberste Stück, aber die Tonlage war zu hoch. Er klopfte auf das unterste Stück,
aber die Tonlage war zu tief. Er klopfte auf das mittlere Stück, und die
Tonlage war gerade richtig .«
Einer der Gäste nieste, und
der Meister hob eine weiße Braue. Lakaien, Priester, Akoluten und Schüler
stürzten sich auf den Elenden und warfen ihn aus der Tür. Nach zwei Minuten
finsteren Schweigens geruhte der Meister fortzufahren.
»Fu-shi beauftragte Liu
Tzu-ch'i, den besten Handwerker Chinas,
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