Meister Li und der Stein des Himmels
besaß
die natürliche Selbstsicherheit schöner Menschen. Er neigte anmutig den Kopf
nach links und rechts, als nehme er Applaus entgegen. Ein leichtes Stirnrunzeln
verriet, daß die Ungeheuer wenigstens Blumen auf seinen Weg streuen und
Weihrauch hätten entzünden können. Ich entdeckte überrascht, weshalb so viele
Angehörige meiner bescheidenen Klasse stolz auf ihre Unterwürfigkeit und die
Peitschenstriemen sind. Ich hielt den Standesschirm hoch. Auch ich ging unter
der gelblich-schwarzen Gazebespannung, dem Futter aus roter Rohseide, den drei
Dächern und den Silberstreben - die Zeichen eines Würdenträgers von höchstem
Rang. Was ist ein Würdenträger ohne einen Bauern, den er peitschen kann? Ich
gehörte jemandem, der Griff des Schirms gab mir ein Gefühl der Macht. Ich
stellte fest, daß ein überhebliches Grinsen der natürlichste Ausdruck der Welt
ist. Sklaverei ist eine wunderbare Zuflucht vor der Unsicherheit. Die Unterteufel
an den Stadttoren hoben die Klauen: Halt! »Sieh dir diese verdreckten Nägel an!
Zwanzig Peitschenhiebe !« rief Meister Li wütend und
schritt geradewegs zwischen ihnen hindurch. Ich umklammerte in Todesangst den
Schirm, und im nächsten Moment befanden wir uns in der Stadt. Meister Li ging
an dem riesigen Tempel vorbei, in dem der Gott der Mauern und Gräben seine
Urteile fällt, und geradewegs zum Palast des Ersten Yamakönigs. Als wir uns dem
Portal näherten, wußte ich, daß wir Probleme bekommen würden. Niemand konnte
den Palast betreten ohne die Erlaubnis eines sehr hochgestellten Oberteufels,
der ein schwarzes Gesicht hatte, blutrote Augen, Stahlzähne, Eisenflügel und
einen Kopf, auf dem sich anstelle von Haaren giftige Vipern ringelten. Aus Ohren
und Nasenlöchern stiegen Rauchwölkchen auf. Ich überlegte, ob meine oder
Mondkinds Knie klapperten, und kam zu dem Schluß, daß wir im Duett klapperten.
Meister Li klopfte mit dem
Finger auf das Emblem des kaiserlichen Zensors und musterte das Ungeheuer mit
der unbeteiligten Kühle eines Metzgers, der ein Stück Fleisch begutachtet.
»Herr Li von Kao, der Gesandte des Himmelssohnes, wünscht den Registrator
Vergangener Existenzen zu sprechen. Sofort!«
Der Oberteufel funkelte
Meister Li an. Aus seinem Maul schössen Flammen.
»Bemerke ich
Unverschämtheit ?« fragte Meister Li kalt. Er zog eine
Smaragdbrosche von Mondkinds Gewand und warf sie in das geschmolzene Eisen, das
um die Mauern des Palastes floß. »Es wäre bedauerlich, wenn ich mich gezwungen
sehen würde, zu melden, daß ein unverschämter Türsteher eine wertvolle Brosche
gestohlen und versucht hat, das Verbrechen zu vertuschen, indem er sie
schluckte .« Seine kalten Augen glitten zum Bauch der
Kreatur. »Obwohl es vielleicht unterhaltsam wäre zu beobachten, wie deine
Vorgesetzten das Beweisstück suchen«, fügte er hinzu. Ohne ein weiteres Wort
schritt er auf die großen Stahltore zu, und ich bemühte mich, Schritt zu
halten. Ich war von Schweiß und Entsetzen geblendet, und erst als meine
Sandalen auf dem Marmorboden hallten, wurde mir klar, daß die Tore sich
geöffnet hatten.
Selbst Meister Li standen
winzige Schweißperlen auf dem Gesicht. Nur Mondkind wirkte völlig unbekümmert.
Er nahm weiterhin imaginären Beifall entgegen, obwohl er sich leicht über das
Fehlen von Begrüßungsfanfaren zu ärgern schien. Ich richtete mich auf und hob
den Schirm noch etwas höher. Wir gingen durch einen langen Gang und erreichten
schließlich einen großen Saal, in dem ein Heer von Schreibern Akten
bearbeitete.
Die Hölle ist sowohl von
gewöhnlichen Geistern als auch von Dämonen bevölkert. (Dämonen sind übrigens
nicht böse. Auf dem Großen Rad der Wandlungen kann man auch als Diener der
Hölle wiedergeboren werden. Blutgier gehört einfach dazu, etwa wie bei einem
Tiger.) Der Vorsteher mußte in seiner letzten Inkarnation sicher ein Bankier
gewesen sein. Er hatte dünne gerade Haare, dünne gerade Augenbrauen, dünne
gerade Augen, dünne gerade Nasenlöcher, dünne gerade Lippen, dünne gerade
Schultern, dünne gerade Hände, die genau parallel auf dem Pult lagen, dünne
gerade Knie, die er korrekt gegeneinanderpreßte, und dünne gerade Füße, die
fest auf dem Boden standen. Mondkind betrachtete ihn nachdenklich. »Mein Fall«,
sagte er. »Du sollst ihn haben«, sagte Meister Li. Es war wie einer dieser
Tänze in der Oper, die mehr verraten, als Worte vermögen. Meine Wangen glühten,
als Mondkind anmutig zum Pult schwebte - das hatte ich noch nie
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