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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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beeindruckendes,
kraftvolles und einzigartiges Motiv. Seine Bedeutung... (Pause, langsam bis
fünfundzwanzig zählen)... ist nicht bekannt .«
    Mondkind hatte einen
starren Blick bekommen und schwankte. Der Registrator Vergangener Existenzen
brach zusammen. Als er mit dem Kinn auf dem Tuschstein landete, riß er den Kopf
hoch. Ich bohrte mir in der Nase. Mondkind erwachte
aus seiner Trance, sank vor mir zu Boden und küßte meine Sandalen. »Ur-Urgroßvater !« wimmerte er. Meine feuchten
Augen richteten sich ruckhaft auf eine Vase mit grauen Blumen. Meine
unerbittlichen Kiefer öffneten sich knackend.
    »Die folgenden Pflanzen und
Blumen«, begann ich leiernd, »rufen eine Stimmung hervor. Die Pflaumenblüte
gehört zur Poesie, die Orchidee zur Abgeschiedenheit, die Chrysantheme zur
Ländlichkeit, der Lotus zur Schlichtheit des Herzens, der Beerenapfel zu Ruhm
und Glanz, die Päonie zu Erfolg, Banane und Bambus zu herrschaftlicher Anmut,
die Begonie zu verführerischer Schönheit, die Kiefer zum Alter, die Platane zur
Sorgenfreiheit, die Weide zur Sentimentalität, die...«
    »Um Buddhas willen, hör
auf !« jammerte der Registrator. »Sehr beeindruckend, nicht
wahr ?« fragte Meister Li, »wie kann man bezweifeln,
daß dieser Wurm Lehrer von Prinzen war, wenn es ihm gelingt, in zwei Minuten
ein ganzes Regiment in Tiefschlaf zu versetzen? Es ist eine äußerst ernste
Sache zu unterlassen, alle Erinnerungen an frühere Leben nicht auszulöschen !«
    »Ich verstehe es nicht«,
flüsterte der Registrator, »in der Vergangenheit wurden viele solcher Fälle
gemeldet. Aber in den letzten Jahrhunderten haben wir sehr sorgfältig
gearbeitet .«
    »Es könnte Betrug sein«,
sagte Meister Li, »der Himmelssohn hat eine unfehlbare Prüfung vorgeschlagen,
und das ist der Grund meines Besuchs. Wir werden diese widerlichen Kreaturen
einfach vor Nieh-ching-t'ai treten lassen, dann wird sich die Wahrheit
zeigen .«
    »Es ist strengstens
verboten, daß ein Lebender vor den Spiegel Vergangener Existenzen tritt«,
widersprach der Registrator scharf.
    »Die Götter drücken ein
Auge zu, wenn der Fall gerecht und weise ist«, sagte Meister Li höflich.
»Außerdem behauptet dieser aufgeblasene Pfau, der Ur-Urenkel zu sein, und
Betrüger haben oft Komplizen .«
    Mondkind wurde überzeugend
blaß und begann zu zittern. Die Augen des Registrators funkelten. Bürokraten
und Höflinge lieben einander nicht. Kurz darauf marschierten wir durch
labyrinthische Flure. Eine große schwarze Tür öffnete sich. Dahinter lag ein
dunkler Gang, an dessen Ende ein grünliches Licht leuchtete. Beim Näherkommen
stellte ich fest, daß es sich um einen natürlichen Spiegel handelte, der von
einem riesigen Kristall in der Steinwand gebildet wurde.
    Hier, am Spiegel
Vergangener Existenzen, herrschte eine Atmosphäre heiliger Ehrfurcht. Ich lag
auf den Knien, machte Kotaus, und die anderen machten ihre Kotaus vor mir. Wir
erhoben uns wieder. Auf dem Boden vor dem Spiegel befanden sich die Umrisse
zweier Sandalen, und Meister Li schob mich vorwärts. Ich stellte mich in die
Markierungen und hob langsam die Augen. Das grüne Licht des Spiegels pulsierte
wie ein Herzschlag. Mein eigenes Spiegelbild sah ich deutlieh, das der anderen
war nicht vorhanden. Ein seltsames Gefühl des Friedens erfaßte mein Herz. Ich
fürchtete mich nicht, als eine leise Stimme in meinem Ohr sprach. »Weshalb
steht ein Lebender vor mir ?« Ich hatte keine Ahnung,
was ich erwidern sollte, und sagte deshalb das erste, was mir einfiel. »Meister
Li sucht die Wahrheit .«
    Das grüne Licht pulsierte
stumm. Dann hörte ich die Stimme wieder. »So sei es. Sieh mich an, Nummer Zehn
der Ochse .«
    Auf beiden Seiten des
Spiegels tauchten zwei Spalten auf. Über der einen stand »Tugenden«, über der
anderen »Sünden«. Mein Körper löste sich auf, formte sich neu, und ich
erkannte, daß ich mich in meiner ersten Existenz auf der Erde sah.
    Ich war eine Art Klecks,
den ich nicht identifizieren konnte, so etwas wie eine winzige Qualle. Der
Klecks verband sich mit anderen Klecksen und wurde eine größere Qualle. Danach
wurde ich etwas mit Fühlern, dann etwas, das kroch, und schließlich erkannte
ich mich erfreut in einem Plattwurm. Die Spalten Tugenden und Sünden blieben
leer. Ich wurde als Fisch wiedergeboren. Dann wurde ich eine Pflanze, ein Pilz
und ein Insekt. Ich wurde als Falter wiedergeboren, als Schabe, als Kuh und als
Schildpattkatze. Ich war stolz auf mich, als ich auf der Leiter

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