Meister Li und der Stein des Himmels
Hinweise darauf gegeben, wer zur Zeit hier das Sagen hat. Falls die Legalisten gewonnen
haben, könnten wir in echte Schwierigkeiten geraten .«
Wir stiegen nicht, sondern
schwebten eher nach unten - ein Segen, denn es ist ungeheuer mühsam, 116787 1/2 Stufen hinunterzusteigen und vor uns tauchte ein kleiner, fahler kalter
Lichtkreis auf. Wir standen an einem Torbogen und blickten vorsichtig über eine
flache, graue Ebene zu den Mauern der Hauptstadt Feng-tu. Es gab keine Sonne,
sondern nur einen Perlmuttglanz am grauen Himmel. Selbst die Bäume und Blumen
waren grau, und alle Geräusche klangen gedämpft.
Die Dämonen waren nicht
grau. Manche hatten leuchtend blaue Gesichter, feurig rote Augen und lange
gelbe Hauer. Andere hatten grüne Fangzähne, rote Nasen und schwarze Ohren. Sie
waren genauso schrecklich wie die Dämonen, die man in Träumen sieht. Sie
achteten darauf, daß die Toten sich in langen Schlangen auf die Stadttore
zuschleppten. Die gesellschaftliche Hierarchie wurde streng gewahrt.
Aristokraten bildeten eine Schlange, Händler und Kaufleute eine zweite,
Gelehrte eine dritte; Bürokraten, Soldaten, Bauern -für alle gab es eine
Schlange, und entsprechend war der Zugang geregelt. Die Aristokraten hatten den
Vortritt, und Prostituierte und Schauspieler kamen zuletzt. Das Zeremoniell war
förmlich und wurde peinlich genau beachtet. Dämonen verneigten sich vor
Trollen, die sich vor Riesen verneigten, die sich vor Unterteufeln verneigten,
die sich vor Oberteufeln verneigten. Meister Li drehte den Kopf und spuckte
angeekelt aus.
»Widerwärtig«, knurrte er,
»die Neokonfuzianer sind am Ruder .« Er dachte nach und
erklärte dann fröhlich: »Im Grunde erleichtert uns das unsere Aufgabe sehr.
Mondkind, wirf dich in deine kostbarsten Kleider und leg die schönsten Juwelen
an. Ochse, du brauchst das Gewand und den Gesichtsausdruck des idealen Bauern,
und ich erlaube mir ein paar Freiheiten mit der augenblicklichen Wirklichkeit .« Wir öffneten unsere Bündel. Ich zog ein Paar Sandalen an,
die fast auseinanderfielen, setzte einen Hut auf, der einem Rattennest ähnelte,
und schlitzte ein altes Gewand am Rük-ken auf, um den Eindruck von
Peitschenhieben zu erwek-ken. Als ich den Ausdruck demütiger, tierischer
Resigniertheit aufsetzte, war ich mit meinem häßlichen Gesicht ein Bauer, der
das Herz auch des anspruchsvollsten Mandarins erfreut hätte. Ich war von
Mondkind geblendet. Ich würde vier Seiten brauchen, um seiner Kleidung gerecht zu
werden. Seine Juwelen hätten ein paar Königreiche ruinieren können.
Meister Li erweckte größte
Ehrfurcht. Ich hatte ihn noch nie in seinem ganzen akademischen Staat gesehen,
und er sah großartig aus. Nach Abschluß seiner Prüfungen hatte man ihn zum chuatig yuan ernannt, dem Größten Gelehrten von China. Und nun trug er
stolz das Zeichen der Rose. Außerdem prangten auf seiner Brust die kaiserlichen
Äxte und Drachen, das Rangabzeichen von chien-knan, dem gefürchteten
Zensor, der das Recht hat, jemanden auf der Stelle zu befördern oder enthaupten
zu lassen. (Vor Jahren war er einmal befugt gewesen, es zu tragen.) Auf seiner
lackierten Mütze glänzten die Knöpfe aller neun Ränge, und er drückte mir
seinen Standesschirm in die Hand. Ich steckte ihn zusammen und hob ihn über die
Köpfe des Gelehrten und des hübschen Pfaus.
»Anmaßung ist Trumpf,
Kinder !« sagte Meister Li, »vergeßt nicht, die Flammen
der Hölle existieren nur, damit edle Neo-konfuzianer wie wir Tee kochen
können.« Wir holten tief Luft und marschierten in die kalte graue Landschaft
der Hölle hinaus. Dämonennüstern rümpften sich angewidert vom Geruch lebender
Körper. Feurige Augen richteten sich auf uns.
»Notier dir diesen dicken
Kerl mit den roten Augen, dem die Fleischfetzen aus dem Maul hängen. Zehn
Peitschenhiebe wegen Nachlässigkeit«, sagte Meister Li, und Mondkind schrieb
etwas in ein Buch. »Sieh dir diese Unordnung an! Die Reihen sind nicht einmal
gerade, und dieses Volk bewegt sich, als hätten sie sich in Sirup gewälzt! Ist
das nicht der Kadaver dieses Kerls, der sich Herzog von Chou nannte? Seit wann
hat ein Zuhälter etwas in den Reihen der Aristokraten zu suchen? Hier tut eine
richtige Säuberungsaktion not, und ein paar hundert Köpfe müssen rollen .« Der grimmige alte Herr schien jemand zu sein, den man
besser an die Vorgesetzten verwies. Fangzähne und Klauen drohten, schlugen aber
nicht zu. Wir eilten mit großen Schritten dem Stadttor entgegen. Mondkind
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