Meister Li und der Stein des Himmels
der Existenzen
nach oben kletterte.
Ich runzelte die Stirn. Ich
schien zurückzufallen. Ich wurde ein Stück Seetang, ein Schaumfleck in einem
Teich, sechs verschiedene Arten Steine, vier Bäume und eine Reihe Pflanzen.
Dann ging es wieder aufwärts: ein Löwenmäulchen, ein schwarzes Waldhuhn, ein
Gecko und ein krummbeiniger Straßenköter mit einem Auge, angefressenen Ohren
und den Narben zahlloser Raufereien. Die Spalten Tugenden und Sünden blieben so
leer wie die Köpfe des Generalstabs. Ich konnte meine erste menschliche
Existenz kaum erwarten. Da war sie. Ich wurde zum Menschen. Ich starrte mit
offenem Mund auf das vertraute häßliche Gesicht von Nummer Zehn der Ochse,
betastete meinen Körper und beobachtete dabei die identischen Bewegungen der
Hände im Spiegel. Die Spalten Tugenden und Sünden verschwanden. »Der Teufel
soll mich holen !« sagte Meister Li. »Das sagen wir
hier unten nicht. Aber ich weiß, was Ihr meint«, sagte der Registrator. »Höchst
außergewöhnlich. Der Junge ist so unschuldig wie eine Aprikose .« »Nicht ganz«, sagte Meister Li grimmig, »wir wissen
jetzt, daß er nie ein Lehrer von Prinzen war. Da fragt man sich doch nach dem
Charakter seines Komplizen. Pfau, tritt vor !«
Mondkind nahm meinen Platz
vor dem Spiegel ein. Das hatte Meister Li von Anfang an beabsichtigt, und ich
bewunderte, wie elegant es ihm gelungen war, sein Ziel zu erreichen. Die
Spalten »Tugenden« und »Sünden« erschienen. Mondkinds Gestalt zerfloß, und er
wurde ebenfalls eine Art Klecks. Wieder sah ich die Folge von Klecksen,
Geschöpfen mit Fühlern, aber dann änderte sich das Bild dramatisch. Mondkind
wurde in rascher Folge giftiges Efeu, ein tödliches Nachtschattengewächs und
ein Büschel roter Beeren, die ich nicht mit der Beißzange angefaßt hätte. Er
bewegte sich sehr schnell auf der Leiter der Existenzen nach oben, wurde zur
Tarantel, zur Kobra und zu einem schrecklichen Wesen mit zwanzig sich windenden
Fangarmen. Das Geschöpf zerfloß und wurde zu einer netten kleinen alten Frau
mit lachenden Augen.
Die kleine alte Frau machte
sich in ihrer Küche zu schaffen und rührte grünes und purpurnes Pulver in einen
Topf. Grüner Rauch stieg auf, eine schwarze Flüssigkeit kochte über, und die
nette kleine alte Frau lachte vergnügt, als eine kleine Katze daran leckte,
blau wurde und tot umfiel. In der Spalte »Sünden« ging es hoch her. Das Große
Rad der Wandlungen beschloß scheinbar, es noch einmal von vorne zu versuchen.
Die kleine alte Frau
verwandelte sich in etwas, das ich nicht
identifizieren konnte. Aber
Meister Li murmelte, es sehe aus wie ein Fall von Lepra. Die Lepra wurde zu
einem mißgestalteten Wurm, einem Geier, einer giftigen Kröte, einer
Kellerassel, Milzfarn und dann zu einem glücklich lachenden kleinen Jungen, der
einen Gecko quälte. Die Spalte »Sünden« wurde wieder aktiv. Mondkinds nächste
Wiedergeburt war Stoff für Legenden: der Manische Mönch Mu aus dem
Mitternachtsmoor.
Der unheimliche Mönch
verwandelte sich in Triebsand, als das Große Rad der Wandlungen einen neuen
Versuch unternahm. Aus dem Triebsand wurden fiebrige Sumpfgase, eine Anzahl von
Spinnen, eine Vampirfledermaus, eine Hyäne und schließlich Mondkind - aber
Mondkind in Frauenkleidern. Die junge Frau spielte mit einer Katze. Erleichtert
stellte ich fest, daß sie die Katze nicht quälte. Aber langsam dämmerte mir,
daß Mondkind die Katze abrichtete, damit sie dem kleinen Kind einer Rivalin die
Augen auskratzte. Der Spiegel schien zu erschauern, als sammle er Kraft für
einen letzten Versuch.
Licht umspielte Mondkinds
schönes Gesicht. Der Strahlenkranz wurde heller und heller und schimmerte wie
Feuerzungen. Mondkind veränderte sich, veränderte sich aber auch nicht. Er
formte sich auf eine Weise um, die gleichzeitig vertraut und fremd war. Er hob
das Gesicht, er hob die Arme, als greife er nach der Sonne. Leuchtende Farben
umspielten ihn und strömten durch ihn hindurch. Die Spalte »Sünden« war
übervoll und reichte bis zum Boden. Die Spalte »Tugenden« blieb leer.
Plötzlich verschwanden
beide Spalten. Das Bild im Spiegel verschwand. Es erschienen folgende Worte: »Ein Urteil überschreitet die Zuständigkeit niederer Gerichte und ist der
Höchsten Gottheit vorbehalten .« Die Worte
verschwanden, und Mondkind sah sich wieder im Spiegel.
»Der Himmel beschütze uns«,
flüsterte der Registrator. »Unglaublich«, sagte Meister Li, »wir müssen den
Göttern danken, daß er nicht unter
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