Meister Li und der Stein des Himmels
Schultern nahm. Ich leerte die übergroßen Eimer aus und
forderte Meister Li und Mondkind auf hineinzusteigen. Meister Li füllte Steine
in seinen Eimer, bis das Gewicht gleichmäßig verteilt war. Ich nahm die Stange
auf die Schulter und ging auf die Seilbrücke
Jeder, der schon einmal
Seiltänzer auf dem Jahrmarkt gesehen hat, weiß, daß sie das Gleichgewicht mit
Hilfe langer Stangen halten. Bauern tragen sehr oft schwere Lasten, die sie an
den beiden Enden solcher langen Stangen befestigen. Ich wußte, es würde nicht
schwierig sein, wenn ich nicht in Panik geriet. Außerdem war mein Schirm sehr
viel besser als der jedes Seiltänzers.
Ich schob die linke Sandale
auf das Seil und bewegte mich langsam vorwärts, wobei ich mit dem Schirm
balancierte. Das schwingende Seil war kein Problem, solange ich nicht dagegen
ankämpfte. Meine Zuversicht wuchs schnell. Es war nichts Besonderes, und ich
erreichte ohne Schwierigkeiten die Mitte der Schlucht. Dann drang aus den
schwarzen Tiefen ein so schauriger Laut herauf, daß ich wußte, was immer dort unten
lauerte, war weit schlimmer als alles, was wir bisher gesehen hatten.
»Buddha! Was war das,
Mondkind ?« rief Meister Li in seinem Eimer.
Ich hörte es wieder,
diesmal klang es noch lauter und noch schauriger. Mir standen die Haare im
Nacken so zu Berg, daß sich die Gesichtshaut zurückzog und meine Zähne in einem
breiten freudlosen Grinsen entblößte . »Der Böse
Minister !« schrie Mondkind entsetzt. »Es sind die
Lippen von Ch'in Kuei, und sie machen sich über einen abgestürzten Sünder her !«
Ich fiel beinahe vom Seil.
Ch'in Kuei war der Premierminister, der den großen Yueh Fei ermordet hatte. Zur
Strafe hat man ihm den Körper gegeben, der ein Abbild seiner Seele ist. Er
besteht nur aus riesigen schleimigen Lippen. Dahinter sitzen spitze kleine
Zähne. Der Böse Minister kaut und kaut und kaut. Er schlingt das Fleisch der
Sünder in sich hinein und beginnt dabei mit den Augäpfeln. Das ekelhafte
Schmatzen war wie ein starker Wind, der das Seil ansaugte und wieder losließ,
so daß es heftig über dem Abgrund hin und her schwang.
Der Schweiß nahm mir die
Sicht. Ich wischte ihn ab und versuchte, mich auf das Seil unter meinen Füßen
zu konzentrieren. Aber ich mußte immer wieder daran denken, wie sich dicke
träge Lippen über meine Zehen schoben. Im nächsten Augenblick würde ich fallen.
Ich konnte mich nur so weit vorbeugen, daß mein Gewicht mich vorwärtszog, und
rennen. Der Schirm rettete uns das Leben. Er blähte sich und erleichterte mir
die Last. Aber ich mußte die Schultern gerade halten, damit die Eimer nicht
anfingen zu schaukeln, und ich mußte mich mit kurzen schnellen Schritten
bewegen, weil das Seil nicht zur Ruhe kam. Früher oder später würde ich
danebentreten.
Als meine rechte Sandale
sich zum nächsten Schritt senkte, wußte ich, ich würde das schwingende Seil
verfehlen. Und wenn ich mich nach links beugte, um den Schwung aufzunehmen,
würde ich das Gleichgewicht verlieren. Das Schmatzen und Schlürfen von unten
half mir, mich mit dem linken Fuß abzustoßen und zu springen. Ich streckte die
Arme so weit wie möglich aus, und als ich stürzte, umklammerten meine Finger
den Rand auf der anderen Seite der Yin-Yang-Schlucht. Dort hing ich, strampelte
blindlings und suchte mit den Füßen einen Halt. Ich spürte unter dem rechten
Fuß einen schmalen Felsvorsprung. Im Handumdrehen hatte ich mich hochgezogen
und über den Rand geworfen. Meister Li und Mondkind fielen aus den Eimern ins
graue Gras. Wir krochen weiter, während das ekelhafte Schmatzen von Ch'in Kuei
allmählich leiser wurde. »Ochse, ich hatte mich schon gefragt, wann es endlich
aufregend werden würde«, sagte Mondkind, beugte sich vor und übergab sich.
Wir befanden uns jetzt in
der Sechsten Hölle, wo Sakrilegien bestraft werden. Die Torturen, die wir
sahen, machten es uns nicht leichter, die Mägen unter Kontrolle zu halten.
Schließlich rafften wir uns auf, und ich griff nach dem Standesschirm, der auf dem
Boden lag. Wir atmeten tief durch und machten uns in unserer Rüstung
neokonfuzianischer Überheblichkeit wieder auf den Weg. Meister Li vermied
Konfrontationen, wenn wir die Grenzen zwischen den einzelnen Höllen erreichten.
In der Siebten Hölle werden Grabschänder bestraft und alle, die Menschenfleisch
verkaufen oder essen. Die Achte Hölle ist jenen bestimmt, denen es an
kindlicher Liebe mangelt, und ich beabsichtige nicht, die schrecklichen Dinge
zu
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