Meister und Margarita
aus den Augen verloren haben, einen Tadel. Und Levi Matthäus soll jetzt zu mir kommen. Ich brauche Einzelheiten im Fall Jeschua.
– Jawohl, Statthalter –, Afranius verbeugte sich und wich allmählich nach hinten. Pilatus aber klatschte in die Hände und rief:
– Zu mir! Einen Leuchter in die Säulenhalle!
Und noch während der Gast die Galerie verließ, erstrahlten hinter Pilatus die Lichter. Drei Lampen erschienen auf dem Tisch. Und die Mondnacht zog sich in den Garten zurück, wie von Afranius abgeführt. Jetzt trat vor den Statthalter ein unbekannter kleiner und rippendürrer Mann, geleitet vom riesigen Centurio. Letzterem warf Pilatus einen Blick zu, worauf er sogleich im Dunkeln verschwand.
Der Statthalter studierte den Ankömmling mit gierigen, etwas ängstlichen Augen. So bestaunt man einen, von dem man viel hört und über den man lange Zeit nachdenkt, bevor man ihn selbst zu Gesicht bekommt.
Der Ankömmling war etwa vierzigjährig, schwarz, in Lumpen, mit vertrocknetem Schmutz bedeckt. Der Blick wölfisch und lauernd. Kurzum, er war äußerst unansehnlich und glichnoch am ehesten einem Bettler, von denen es auf den Tempelterrassen und den Bazaren der lärmenden und dreckigen Unteren Stadt so viele gibt.
Das Schweigen dauerte eine Weile und wurde erst vom merkwürdigen Verhalten des Hereingeführten gebrochen. Sein Gesicht veränderte die Farbe, er wankte, hielt sich mit der schmutzigen Hand an der Tischkante fest, was allein seinen Sturz verhinderte.
– Was ist mit dir? –, fragte ihn Pilatus.
– Nichts –, entgegnete Levi Matthäus und bewegte sich wie jemand, der etwas verschluckt hatte. Sein dünner, nackter, ungewaschener Hals blähte sich auf und schlaffte wieder ab.
– Was ist mit dir? Los, rede! –, wiederholte Pilatus.
– Ich bin müde –, antwortete Levi und betrachtete finster den Boden.
– Setz dich –, Pilatus wies ihm den Sessel.
Levi sah den Statthalter misstrauisch an, tat einen Schritt auf den Sessel zu, schielte erschrocken auf die goldenen Armlehnen und nahm neben dem Sessel am Boden Platz.
– Würdest du mir erklären, warum du dich nicht auf den Sessel gesetzt hast? –, fragte Pilatus.
– Ich bin verschlammt, ich will ihn nicht dreckig machen –, sagte Levi mit gesenktem Blick.
– Man soll dir etwas zu essen geben.
– Ich mag nichts essen –, antwortete Levi.
– Wozu mich belügen? –, sprach Pilatus leise. – Du hast seit einem Tag keinen Bissen im Mund gehabt, vielleicht sogar länger. Doch ganz wie du meinst. Ich rief dich her, um das Messer zu sehen, das bei dir war.
– Die Soldaten haben es mir abgenommen, als sie mich hierherbrachten –, sagte Levi und fügte grimmig hinzu: – Ich brauche es wieder, ich muss es ja noch seinem Besitzer zurückgeben. Es ist nämlich gestohlen.
– Warum das?
– Um die Fesseln zu zerschneiden –, erklärte Levi.
– Marcus! –, rief der Statthalter aus, und der Centurio trat unter die Säulen. – Sein Messer!
Aus einer von seinen zwei Gürteltaschen zog der Centurio ein verschmiertes Brotmesser, reichte es Pilatus und entfernte sich wieder.
– Wo hast du es her?
– Aus einer Bäckerstube am Hebron-Tor. Wenn du in die Stadt kommst, gleich auf der linken Seite.
Pilatus besah sich die breite Klinge, prüfte aus irgendeinem Grund mit dem Finger, ob das Messer auch scharf ist, und sagte:
– Mach dir wegen des Messers keine Sorgen, es wird in den Laden zurückgebracht werden. Jetzt geht es mir noch um eine zweite Sache: Zeig mir die Schrift, die du bei dir trägst, jene, wo Jeschuas Worte notiert sind.
Levi schaute Pilatus hasserfüllt an und verzog die Lippen zu einem so unguten Lächeln, dass sein Gesicht nunmehr vollkommen entstellt wirkte.
– Ihr wollt mir alles nehmen? Sogar noch das Letzte, was ich besitze? –, fragte er.
– Ich sagte nicht »gib mir« –, erwiderte Pilatus, – ich sagte »zeig mir«.
Levi wühlte unter dem Rock und holte eine Pergamentrolle hervor. Pilatus nahm sie, breitete sie aus, dort auf dem Tisch, zwischen den Leuchtern, und begann, mit zusammengekniffenen Augen die wirren Tintenzeichen zu entziffern. Schwer verständlich, dieses Gekrakel. Pilatus strengte die Gesichtsmuskeln an, beugte sich über den Text und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. Alles nur wenig zusammenhängend. Irgendwelche Sprüche, irgendwelche Zahlen, Rechnungen und Poesiefragmente. Hier zum Beispiel: »Wo ist der Tod? … Gestern aßen wir süße Frühlingsfeigen …«
Vor
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