Melina und die vergessene Magie
allerdings, dass uns keine Chulus vor der Hütte erwarten.«
Melina zog die rechte Augenbraue hoch. »Ja, das ist wirklich eine erstaunliche Geschichte.«
Er wirkte verblüfft, wie Melina befriedigt feststellte.
»Vielleicht erzähle ich sie dir – wenn du mir deine erzählst.«
Feuervogel
Lianna war selbst überrascht, dass sie Heimweh empfinden konnte. Heimweh nach einer alten Hütte, nach ihren Eltern, für die sie sich bei ihrem Abschied fast geschämt hatte. Aber es war so. In einer Welt voller Magie und wundersamer Dinge fühlte sie sich jetzt noch kleiner und unscheinbarer als früher in ihrem Dorf. Und sie sehnte sich nach dem tröstenden, warmen Blick ihrer Mutter und nach den starken Armen ihres Vaters. Sogar nach ihren ewig streitenden Brüdern.
Morzena hatte Lianna nicht hereinkommen hören. Sie war über ein Stück Papier gebeugt. Es schien ein Bild zu sein, ein täuschend echtes Bild von einer Frau, einem Mann und zwei Kindern. Bevor Lianna etwas Genaueres erkennen konnte, hatte Morzena es unter dem Tisch in einer Schublade verschwinden lassen, als wäre es ein Geheimnis.
»Was willst du?«, herrschte sie sie an.
Lianna trug ihren Wunsch vor, und Morzena runzelte die Stirn.
»Du hast doch zugehört an dem Tag, als ich dich zu mir holte? Ein Zauberlehrling darf seine Familie während der Zeit seiner Lehre nicht sehen. Es ist wichtig, dass du lernst, dich von deinen Leuten abzunabeln. Sie sind unmagisch.«
»So wie ich«, murmelte Lianna und dachte an die böse Beleidigung des alten Zauberers.
»Weil du noch nicht bereit bist«, erwiderte Morzena unwirsch. »Bald wirst du sehr viel lernen. An deinem dreizehnten Geburtstag fangen wir damit an. Versprochen!«
»Das war vorgestern«, sagte Lianna und spürte zum ersten Mal Widerwillen gegen ihre Herrin.
»Oh«, machte Morzena und nickte langsam. »Dann werden wir also morgen anfangen.«
In dieser Nacht fand Lianna keinen Schlaf. Ob ihre Herrin wirklich vorhatte, ihr endlich etwas beizubringen? Und warum verbot sie ihr den Kontakt mit ihrer Familie? Wie lange würde sie sie nicht mehr sehen?
Am nächsten Morgen sollte sie Salius auf dem obersten Punkt der Außentreppe treffen. Als sie die Tür nach draußen öffnete, erschrak Lianna. Vor ihr stand Salius, aber er wirkte winzig – gegenüber dem riesigen, dunklen Vogel, der sich auf der äußeren Kante der Stufen festkrallte. Das Tier glühte von innen wie das Lavagestein am Fuß des Turms. Unter seinen tiefschwarzen Federn schien es orangerote Ströme zu geben, und seine Augen schimmerten wie zwei untergehende Sonnen.
»Auf dem … Ding soll ich reiten?« Lianna schnappte nach Luft.
Salius wandte sich genervt von ihr ab wie von einem ungezogenen Kind.
»Stell dich nicht so an und steig auf! Drück ihm die Knie in die Seiten, damit er spürt, dass jemand auf ihm sitzt. Sonst landest du möglicherweise im nächsten Krater. Achte darauf, dass dein Blick immer auf dein Ziel gerichtet ist. Solange du auf ihm sitzt, sieht der Vogel durch deine Augen und fliegt dorthin, wo du hinschaust.« Salius schmunzelte böse. »Wenn du nach unten siehst – geht es im Sturzflug abwärts.«
Lianna betrachtete den Vogel noch immer aus sicherer Entfernung. Die Panik nagelte sie am Boden fest, unfähig zu einer Bewegung. Wie sollte sie je auf diesen Rücken kommen, ohne in die Tiefe zu stürzen? Es gab nichts, woran sie sich festhalten konnte!
»Greif nach einer Feder im Nacken«, befahl Salius ungeduldig. »Zieh dich hoch und mach kein Theater! Und pass auf, wir wollen doch nicht, dass Morzenas Tablettträgerin schon wieder ersetzt werden muss, oder?«
Das rüttelte Lianna auf. Tablettträgerin? Sie war ein Zauberlehrling! Und Salius würde sich noch umschauen, wenn sie erst eine Magierin war! Sie nutzte den Moment, in dem die Wut ihre Angst überflügelte, und zog sich an dem Gefieder des gewaltigen Vogels empor. Von seinem Rücken aus warf sie Salius einen stolzen Blick zu, dann wandte sie sich ab und betrachtete das Tal, während sie ihre Knie in die Seiten des Tieres drückte. Als der Vogel sich erhob, erschrak Lianna, und mit angehaltenem Atem sah sie in die Tiefe. Gleichzeitig bemerkte sie ihren Fehler. Ihr Reittier kippte nach vorn und wollte sich nach unten fallen lassen. Nein! Nein!
Sie hob ihr Gesicht mühevoll an und blickte auf die Grassteppe vor dem Turm. Der Feuervogel korrigierte seinen Kurs und legte sich elegant in den Wind. Lianna spürte, dass sie ihn jetzt im Griff hatte, und sie war
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