Melina und die vergessene Magie
Melina sie entgeistert ansah, lächelte sie zum ersten Mal. »Ja, ich weiß, welches Bild ihr in der Menschenwelt von uns habt. Jedes Volk hat andere Geschichten über uns zu erzählen. Und keine davon ist wahr.«
»Heißt das, ihr kennt meine Welt?«
Die Xix nickte. »Wir kennen die Erde vom Beginn der Zeit an, und wir reisen zwischen den Welten, die seitdem entstanden sind. Manche davon haben wir selbst erschaffen.«
Melina sah sich verwirrt um.
»Setz dich und sag mir, wie du heißt!«, befahl die Hexe und setzte sich ebenfalls.
»Melina.«
»Ich bin Selyke.«
»
Die
Selyke? Dann müsstest du ja mindestens … Du hast die Xix doch schon vor hundert Jahren angeführt, als sie den Eiszauberern den Tiegel schenkten, nicht wahr?«
Die Xix antwortete mit einem knappen Nicken. »Ein dunkles Kapitel in unserer Geschichte. Aber was weißt du – so ein junges Menschenkind – von der dunklen Zeit?«
»Wir kennen deinen Namen aus dem Tagebuch von Erels Großvater. Er war einer der Berater von König Tius.«
Selykes Blick flackerte. »Wie war sein Name?«, fragte sie streng. Melina überlegte. »Lodin, glaube ich.«
Das Gesicht der Hexe wurde unerwartet weich. Ein wenig Farbe belebte ihre blassen Gesichtszüge.
»Lodin …« Sie sprach den Namen anders aus, sodass er beinahe mystisch klang.
»Er war der beste Berater, den je ein König gehabt hat. Ohne ihn wäre Tius niemals zur Legende geworden. Ich habe viele Wesen in meinem Leben kennengelernt – sie alle hatten eine kürzere Lebensspanne als ich, und keiner von ihnen hat es in dieser kurzen Zeit zu wahrer Weisheit gebracht. Lodin war weise. Und er war mein Freund.«
Melina bemerkte erstaunt die stille Freude, die so gar nicht zu der rauen Frau zu passen schien.
»Und wo ist dieser … Erel?«, fragte sie.
Melina wandte sich wortlos nach den Nebelgestalten um, die am Eingang warteten.
»Das ist kein angemessenes Schicksal für Lodins Enkel!«, erwiderte Selyke scharf, womit sie sich selbst zu rügen schien. Ohne sich von ihrem Steinquader zu erheben, gab sie ein paar hohe, schrille Geräusche von sich, die keiner Sprache ähnelten, die Melina je gehört hatte. Es klang eher wie Kreide, die auf einer Tafel quietschte. Im gleichen Moment wirbelten die beiden Nebelwesen im Kreis und drehten sich immer schneller um sich selbst. Dabei wurden sie bunter – und schließlich wieder langsamer. Inzwischen konnte Melina sie genau erkennen: Tann und Erel hatten wieder ihre alte Gestalt! Mit einem kleinen Schrei sprang sie auf und drückte Tann fest an sich.
»Mir ist schwindelig«, sagte er irritiert.
Melina lachte und umarmte Erel.
»Was habe ich getan, dass ich das verdient habe?«, lächelte er.
»Weißt du nicht mehr, dass du dich in Nebel verwandelt hast?«
Erschrocken sah er an sich herunter.
»Nebel? Wer hat mich dann …?« Sein Blick fiel auf die alte Frau. »Wer ist das?«
»Eine gute Freundin deines Großvaters«, flüsterte Melina. »Selyke.«
Sie spürte die Anspannung in ihm, als er auf das Feuer zuging und sich auf einem Stein der Hexe gegenüber niederließ. Tann folgte ihm zögernd.
»Ich grüße dich«, sagte Erel leise und nickte Selyke zu. »Hat Melina dir schon gesagt, weshalb wir hier sind?«
Sie musterte ihn. »Du siehst Lodin sehr ähnlich. Allerdings war er diplomatischer.«
Erel deutete im Sitzen eine Verbeugung an. »Entschuldige! Ich stehe tief in deiner Schuld für die Rückverwandlung.«
Selyke wehrte unwillig ab. »Du musst mir nicht danken. Mit ›diplomatisch‹ meinte ich, dass wir zuerst einen Becher Flusswasser zusammen trinken sollten.«
»Flusswasser?« Melina konnte den angewiderten Ton in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Selyke zog die Mundwinkel nach oben, ohne dass es an ein Lächeln erinnerte.
»Ihr seid erfrischend direkt. Unter uns Erdgeistern trinkt man das, was die Natur uns gibt. Aber keine Sorge – ich kann das Flusswasser für euch in alles verwandeln, was ihr mögt. Dein Großvater, Erel, trank es immer als Farnwein.«
»Geht auch Cola?«, fragte Melina.
Selyke nickte.
»Das nehme ich auch«, erklärte Erel, und Tann schloss sich an.
Melina musste lachen. »Ihr habt doch gar keine Ahnung, was das ist!«
Tann und Erel sahen erwartungsvoll auf den Tisch, auf dem nun drei Becher mit dunkler Flüssigkeit erschienen. Melina nahm ihren und trank mit Begeisterung. Es schmeckte nach zu Hause, fand sie, nach einem Sommerabend mit Mam und Paps auf der Terrasse. Die Sehnsucht nach ihrer eigenen Welt
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