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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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Der Tote wurde nämlich in einem Kloster dieser Gegend bestattet, und der Geruch seiner Heiligkeit, im Verein mit der Teilnahme, welche sein sonderbares Sterben geweckt, lockte eine große Menschenschar zu der Leichenfeier. Die Totenpredigt wurde von einem wegen seiner Beredsamkeit weitbekannten Ordensbruder gehalten, welcher dafür aufs beste geeignet schien. Um den Effekt seiner Worte noch eindrücklicher zu machen, hatte man den Leichnam inmitten der Kirche aufgebahrt, dessen Antlitz aber unbedeckt gelassen. Der Ordensbruder baute seine Predigt auf jenem Prophetenwort auf, welches da lautet »Der Tod ist eingefallen in unsere Paläste«, und verbreitete sich über die Hinfälligkeit allen Fleisches, die, ob sie nun plötzlich oder zögernd herankommt, den Menschen gleichermaßen entsetzlich ist. Und indem er daranging, die große Zahl der Verluste herzuzählen, die solcher Hingang nicht nur der verwaisten Gemeinde zugefügt, welcher der Verstorbene angehört hatte, nein, auch der Menschengemeinschaft im weiteren Sinne, ja, sogar der Heiligen Religion im ganzen, verstieg er sich schließlich bis zu der leidenschaftlichen Auflehnung gegen den Ratschluß Gottes.
    »Warum, o Gott, hast Du«, so rief er aus, »warum hast Du, o Gott, uns dieses angetan? Warum hast Du diesen strahlenden Heiligen vor unseren Augen hinweggenommen, ihn, dessen Vorzüge, zählte man sie säuberlich zusammen, unzweifelhaft Petri Verleugnung, die Sünden des Saulus (vor seiner Läuterung), ja, sogar den schändlichen Verrat des Judas aufgewogen hätten? Warum hast Du, o Gott, diesen da von uns hinweggenommen? An eben der Stelle aber antwortete eine tiefe, hohltönende Stimme aus der Mitte der gläubig lauschenden Menge: »Weil er es nicht anders verdient hat.«
    Doch das zustimmende Gemurmel, welches sich bei der Anrufung Gottes erhoben hatte, übertönte den ungewöhnlichen Einwurf fast völlig, und obwohl in der unmittelbaren Umgebung des Rufers einige Unruhe entstand, ließ die Gemeinde nicht ab, den Worten des Predigers gespannt zu lauschen.
    »Was«, so fuhr dieser jetzt fort, indem er auf den Leichnam zeigte, »was hat dich auf diese Totenbahre gestreckt, du treuer Diener Gottes?«
    »Hoffart, Unwissen und Furcht«, antwortete die nämliche Stimme, diesmal schon in durchdringenderem Ton. Die Unruhe wurde denn auch zu einer allgemeinen. Der Prediger verstummte, die Menge öffnete sich und gab einen Kreis frei, in dessen Mitte ein Mönch des hiesigen Klosters stand.
    Nachdem man all die gebräuchlichen Mittel der Ermahnung, des Verweises und der Züchtigung angewandt hatte, nachdem sogar der Oberhirte der Diözese unter dem Eindruck so außerordentlicher Begebenheiten den Konvent besucht hatte, ohne indes dem widerspenstigen Mönch ein Wort der Erklärung entlocken zu können, wurde in einer besonderen Sitzung beschlossen, ihn der Gewalt der Heiligen Inquisition zu überantworten. Der Delinquent legte großen Schrecken an den Tag, als ihm dieser Beschluß mitgeteilt wurde, und machte sich wieder und wieder erbötig, alles zu sagen, was er über des Paters Olavida Tod aussagen könne . Die Demütigkeit solcher Haltung und das wiederholte Angebot, alles zu bekennen, kamen jedoch zu spät, und der Mönch wurde an die Heilige Inquisition überstellt. Die Methoden, nach denen man dort mit den Befragten verfährt, dringen nur selten an die Außenwelt, doch gibt es da einen geheimen Bericht (für dessen Wahrhaftigkeit ich mich freilich nicht verbürgen möchte) über die Aussagen und die Leiden unseres Mönches. Bei seiner ersten Befragung erklärte er sich willens, alles zu sagen, was er sagen könne . Hierauf bedeutete man ihm, dies genüge nicht, und er müsse alles bekennen, was er wisse .
    »Weshalb hast du solches Entsetzen beim Begräbnis des Paters Olavida bekundet?«
    »Jedermann hat beim Tod dieses hochwürdigen Gottesmannes, welcher im Geruch der Heiligkeit von hinnen gegangen, Entsetzen und Bekümmernis an den Tag gelegt. Hätte ich anders gehandelt, es wäre mir als ein Beweis meiner Schuld angerechnet worden.«
    »Weshalb hast du den Prediger mit so ungewöhnlichen Ausrufen unterbrochen?«
    Auf diese Frage erfolgte keine Antwort.
    »Weshalb weigerst du dich, den Sinn dieser Ausrufe darzulegen?«
    Keine Antwort.
    »Weshalb verharrst du in diesem hartnäckigen, gefährlichen Schweigen? Sieh, Bruder in Christo, ich beschwöre dich bei diesem Heiligen Kreuz da an der Wand«, und der Inquisitor wies auf ein großes, schwarzes Kruzifix,

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