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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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kannte: Hier liegt Hans, der am zweiten Tag im August 1629 in der Mine Seiner Majestät starb. Hier liegt Mikkel. Hier liegt Niels …
    Man sieht hauptsächlich Frauen am Berg, die auf den eingestürzten Fels und die Tunnelöffnungen blicken, wo die Überbleibsel der Toten schließlich ans Tageslicht gebracht worden waren. Und was diese hören, ist die tödliche Stille um sie herum, die Stille der Verschwundenen. Es sind die Witwen und Mütter der Männer vom Numedal. Sie stehen regungslos in ihrer schwarzen Kleidung da und denken an den Tag, an dem der König kam und ihnen erzählte, daß sie an dem zu erwartenden Reichtum teilhaben würden, und daran, wie diese Träume vom Wohlstand dann in ihrer Phantasie Gestalt annahmen und sie ihre Männer und Söhne drängten, die Arbeit, der sie gerade nachgingen, aufzugeben, um Bergleute zu werden.
    Visionen von Silber hatten die Dunkelheit ihrer niedrigen Hütten erhellt. Bei den Mahlzeiten unterhielten sie sich über Silber. Und wenn die Männer nach der Arbeit nach Hause kamen, untersuchten die Frauen ihre Hände auf Spuren von Silberstaub. Und es gibt wohl kaum jemanden, der nicht ein mit Silber geädertes Felsstück besitzt, das in einem Stiefel oder sogar verborgen im Körper eines Mannes, um wie versteinerter Stuhl in einen Nachttopf entleert zu werden, herausgeschmuggelt worden war.
    Die Frauen hielten diese Bruchstücke in den flachen Händen.
    »Das?« hatten sie gefragt. »Das bißchen Stein?«
    »Ja«, hatte die Antwort gelautet. »Und ich könnte dafür, daß ich es mitgenommen habe, ins Gefängnis kommen. Halte es also versteckt, und sprich nie davon, solange die Silbermine nicht abgebaut ist und alle Ingenieure weg sind.«
    Die Mine wurde jedoch nicht abgebaut. Das ist einer der Gründe dafür, daß die Witwen und trauernden Töchter dort stehen und auf sie starren. In der Stille, die nur von den Schreien der Adler unterbrochen wird, die manchmal gemessen über ihnen kreisen, blicken sie auf das, was nicht zu sehen ist, auf das Geheimnis des Berges. Wenn es wieder Winter wird, wird Schnee die Stelle zudecken, wo die Männer hineingingen und nicht mehr lebend herauskamen. Und der Schnee wird zu einem Gletscher gefrieren, und keiner der wenigen Reisenden, die des Weges kommen, wird je erfahren, welcher Reichtum sich unter der weißen Decke verbirgt.
    Doch die Frauen wissen es. Sie sind es, die dafür bezahlt haben. Sie wissen, wofür die Männer gestorben sind. Und sie wollen, daß alles wiederkehrt: der Lärm und die Pracht der Mine. Sie wollen, daß es noch einmal lebendig wird, so, wie es war, mit den Rufen der Ingenieure und Warnpfiffen vor jeder Sprengung, mit dem Gehämmere und Gequietsche der hundert Pickel am Werk, den Liedern am Abend, den Humpen mit Bier in den rauhen Händen ihres Mannsvolks, der kräftigen Gestalt des Königs mitten unter ihnen und sogar bei ihnen zu Hause am Kamin, wenn er von Dänemark und Norwegen, vom großen Königreich und künftigen Wohlstand erzählte.
    Sie stehen da und lauschen auf eine Musik aus der Erde, die niemand außer ihnen hören kann. Es war die Musik der Mine. Es war die Musik der Hoffnung. Sie hatten sie fünf Monate lang gehört, und dann kam die Explosion, bei der es keine Vorwarnung gegeben hatte. Sie wünschen sich sehnsüchtig, die Musik wieder zu hören, wissen aber, daß es vergeblich ist.

    Der Lutheranerpfarrer, der die Witwen und Kinder der Minenarbeiter besucht, ist so dünn und klein, daß man ihm den Spitznamen Rotte , »kleine Ratte«, gegeben hat. Er heißt Martin Møller. Er muß in seiner Holzkanzel auf einer Fußbank stehen, um auf seine Gemeinde blicken zu können. Und seine Predigten bereiten ihm jede Woche Pein, weil er kein Mann ist, der gerne spricht, es sei denn lautlos mit Gott. Er wünscht sich oft, er müsse nicht predigen und trösten, sondern nur denken. Bei seinen Hausbesuchen ist er häufig so still, daß man ihn ganz vergißt.
    Doch neuerdings, seit der Tragödie im Numedal, spricht Martin Møller sehr viel. Er begreift, daß hier ein schreckliches Unrecht geschehen ist, und anstatt sich in ein noch erbitterteres Schweigen zurückzuziehen, hat er die Rolle des Fürsprechers für die Hinterbliebenen und Leidenden übernommen.
    Gott sagt ihm, daß es nicht gerecht , nicht richtig ist, daß der König die Mine stilliegen und in Vergessenheit geraten läßt und nichts gegen den Kummer und die Armut dieser Menschen unternimmt. Die Dorfbewohner am Isfoss waren bereit gewesen, ihr Leben

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