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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Kastanienbrauner und ein Grauschimmel. Die Geschirre rasseln und klirren, und die Hufe stampfen auf den Boden und schlagen Funken aus den Steinen.
    Der König erscheint gewaltig und wirft einen breiten Schatten, als sich die Lampen bewegen. Peter Claire geht nicht zu ihm hin, sondern fragt einen dünnen Mann, was los sei.
    »Das ist mein Wagen!« sagt dieser. »Der König hat meinen Wagen beschlagnahmt!«
    »Warum?« fragt Peter Claire.
    Der Mann ist klein und knochig und hat ein vom Wetter und von Sorgen ausgemergeltes Gesicht. »Für seine Frau«, erwidert er, »er schickt seine Frau in meinem Fischwagen zur Hölle!«

    Peter Claire folgt dem Wagen auf seinem Weg zum Haupteingang des Palastes. Er bleibt in seinem Schatten, da er es nicht wagt, zum König zu gehen, und ihm klar ist, daß nichts, was er sagen könnte, das Geschehen beeinflussen würde. Doch er hat auch keinen Zweifel daran, daß Kirsten Emilia mitnehmen wird.
    Ihm rasen wilde Pläne von Entführung und Rettung durch den Kopf. Er weiß aber, daß er nichts tun kann. In dieser seltsamen Nacht ist jeder und alles dem Plan des Königs unterworfen, und nichts kann verhindern, was geschehen wird. Er betritt den Palast jedoch ungesehen durch einen Seiteneingang und ruft, als er sich Kirstens Gemächern nähert und hört, wie sie ihre Frauen ankreischt, nach Emilia.
    Es erscheint jedoch Kirsten. Sie trägt einen schwarzen Umhang, ihr Gesicht hat im ersten, durch Rosenborgs Fenster tretenden Licht eine gespenstische Blässe, und sie hält eine Seidenpeitsche in der Hand, mit der sie auf die Wand schlägt. »Lautenist!« schreit sie. »Geht und hurt mit Eurer irischen Dirne! Emilia gehört mir, und sie ist alles, was ich jetzt noch habe, und kein Mann wird sie mir je wegnehmen!«
    Den Anordnungen, der Waffe und der Boshaftigkeit in der Stimme der wilden Frau zum Trotz ruft er noch einmal nach Emilia, und für einen Augenblick ist sie da: Sie hat Sachen von Kirsten über dem Arm und blickt ihn im Halbdunkel an, sagt aber nichts. Dann schlägt ihn Kirsten mit der Peitsche über den Arm. »Verschwindet!« brüllt sie. »Kehrt nach Irland zurück, denn Ihr werdet Emilia niemals wiedersehen!« Der Peitschenhieb brennt, Peter Claire hält sich den Arm, und einen Augenblick lang bleibt ihm die Luft weg. Als er wieder aufschaut, ist Emilia nicht mehr da.

    Kurz nach fünf Uhr an diesem kühlen Septembermorgen fährt der Wagen des Fischhändlers mit Kirsten und Emilia und den Besitztümern, die sie in der ihnen eingeräumten Zeit zusammenraffen konnten, zu den Toren Rosenborgs hinaus.
    Alle anderen Frauen werden zurückgelassen und stehen nun zitternd zusammengedrängt an den Toren und beobachten, wie der Wagen die Einfahrt hinunterschwankt und dann ihren Blicken entschwindet. Als er schon weg ist, rühren sie sich immer noch nicht und sehen sich nur zerstreut an. Nicht weit von ihnen entfernt wartet Peter Claire kläglich auf den neuen Tag.
    Doch der König schenkt ihnen allen keinerlei Beachtung und verweilt auch nicht länger. In ihm steigt nun ein Gefühl der Erschöpfung auf, eine sein ganzes Wesen umfassende Müdigkeit, wie er sie noch nie erlebt hat. Er geht direkt in sein Schlafzimmer, schließt die Fenster und fällt noch in den Kleidern in einen tiefen, völlig traumlosen Schlaf.

ZWEITER TEIL
Frederiksborg und Jütland
1629-1630

MARTIN MØLLER IM TAL DES »ISFOSS«
    Nicht, daß der Wasserfall gefroren bliebe. (Seit April fließt der Strom wieder, und mit dem weißen Wasser stürzt über die glasige Lippe das Treibgut des Sommers – Pollen und Staub, Eintagsfliegen und Samen. Und nun schwimmen die ersten Herbstblätter auf der Wasseroberfläche.) Doch niemand scheint das Tosen des Wasserfalls zu hören.
    Sie stehen nördlich davon, dort, wo die Gräber für die Männer ausgehoben worden sind, die von irgendwoher gekommen waren, die nichts hatten, keine Papiere, keine Frauen und keinen nennenswerten Besitz, und deren Körper nicht zurückgebracht werden konnten, weil niemand wußte, woher sie stammten. Es waren arme Männer, die Gerüchte gehört hatten, daß es in der Silbermine Arbeit gebe. Sie waren durch Schnee und Eis gelaufen und von den Ingenieuren angeheuert worden. Als sie bei der Explosion umkamen, wurden die Teile von ihnen, die man finden konnte, hier am Isfoss begraben, im Gestein, das sie getötet hatte. Der Sargmacher hatte Holzkreuze zusammengenagelt und um die Steine eingepflanzt, und in diese waren die Namen eingeritzt, unter denen man sie

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