Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Begeisterung der Menschen beim Gedanken ans Neue , was in ihnen die Begeisterung für Spirituosen erweckt.
In diesem Rauschzustand werden sie zu Clowns, Magiern und Akrobaten. Sie beschmieren sich die Gesichter mit Mehl und Schlamm. Sie zaubern aus Jungfrauen Huren und aus alten Mädchen Dirnen. Sie versuchen auf den Rücken ihrer geduldigen Wagenpferde zu tanzen und setzen sich in den Kopf, sie können auf die hohen Türme der Stadt klettern und fliegen.
Und wenn der Neujahrskarneval vorüber ist – oder vielmehr, wenn er sich erschöpft hat, denn ein paar Halsstarrige wollen kein Ende des wilden Feierns zulassen –, sind die Straßen stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Kranken werden heimgeschleppt und die Toten abtransportiert. Zerbrochene Dachziegel und Schornsteinköpfe bleiben zurück und verstopfen die ohnehin schon stinkenden, von Unrat überfließenden Gossen. Und die Bürger blicken aus ihren Fenstern auf die Stadt und in den Wintertag, kauern in ihren Zimmern und fragen sich, warum sie in dieser Zeit leben, was Gott vor ihnen verbirgt und was Er ihnen wohl noch eines Tages offenbaren wird.
Auch ihr König blickt auf diesen Wirrwarr. Er schaut nach innen und außen. Und an beiden Orten findet er Elend.
Er sehnt sich nach Dingen, die er nicht beim Namen nennen kann. Sehr oft übersetzt er diese Sehnsucht in den Wunsch nach Essen und Trinken. Er verlangt von seinen Küchenchefs neue, noch perfektere Zubereitungen für den wilden Eber, den er in den Wäldern von Frederiksborg erlegt. Er trinkt, bis er nicht mehr sprechen und stehen kann und ins Bett getragen werden muß. Seine Diener merken, daß er Mundgeruch hat und sein Gaumen blutet. Sein Darm gleicht einem mit feuchtem Pulver gefüllten Faß; es bereiten sich dort Explosionen vor, die nicht zum Auslösen kommen und ihn manchmal wie einen Knaben heulen lassen.
In mancher Hinsicht gleicht er den Akrobaten unter den Bürgern – sprungbereit auf einem galoppierenden Pferd oder hohen Giebel, zwischen Himmel und Erde zögernd, zwischen gegnerischen Staaten und Glauben in heftigem Widerstreit. So ist er im einen Augenblick euphorisch und optimistisch und kritzelt auf ein Blatt immer neue, ausgefallene Ideen zur Rettung seines Landes, im anderen versinkt er in eine so tiefe Düsternis, daß er darum betet, umzufallen und zu sterben.
In diesen Zeiten erkennt er mit Unbehagen, daß sein Leben jetzt so ins Physische und Weltliche verwickelt ist, daß er in seiner Seele nicht mehr das Göttliche wahrnehmen kann. Er murmelt Gebete und weiß doch, daß sie vergeblich sind. Gott ist woanders und hört nichts. König Christian verläßt sich immer mehr darauf, daß ihn sein Engel beschützt und seine Traurigkeit mit traurigen Liedern beschwichtigt.
Während dieser Neujahrszeit trifft eine Gruppe von Handelsleuten aus Hamburg in Frederiksborg ein.
Sie gehören zu den reichsten Männern Deutschlands. Sie halten zusammen einen Anteil am Reichtum ihres Landes, der ihren rechtmäßigen Anteil so weit übersteigt, daß niemand begreifen kann, wie so wenige ein derartiges Vermögen ansammeln können.
König Christian versucht nicht einmal, es zu begreifen. Es tut bei seinen Plänen nichts zur Sache. Er hat die Händler aus Hamburg nach Frederiksborg eingeladen und unterbreitet ihnen nun einen Vorschlag: sie sollen die Rolle von Pfandleihern übernehmen. Als sie sich in der großen Halle, wo Jens Ingemann und sein Orchester Auszüge aus Die Schlacht vor Pavia von Matthias Werrecore spielen, versammelt haben, teilt Christian ihnen mit, daß es sich bei dem Pfandgegenstand um Island handelt.
Die Ankündigung des Königs ruft keinerlei Überraschung oder Unruhe hervor. Diese dezent gekleideten Makler haben es darin, Unerwartetes ohne Gemütsregung aufzunehmen, zur Meisterschaft gebracht; es ist ein wesentlicher Teil ihrer Befähigung. Sie tauschen nicht einmal Blicke aus.
»Island?« fragt der eine. »Mit allen Rechten und Konzessionen zum Mineralabbau?«
»Mit welchem Anteil an den Küstengewässern?« fragt der nächste.
»Für welchen Zeitraum?« fragt der dritte.
König Christian greift nach einem Blatt Papier, das er in Deutsch vorbereitet hat, und läßt es den Handelsleuten vorlesen. Sie sitzen ganz still und schweigend auf ihren Stühlen und hören zu. In dem Papier wird die Summe von einer Million Dalern gefordert. Dafür bekommt die Gruppe »das Land mit seinen Hügeln und Bergen, seinen Gletschern und Tälern, seinen Flüssen und Seen und einem
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