Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
im Hinblick auf dieses Kind vorgestellt hatte, glaube aber nicht, daß ich voraussah, was für eine große Plage es für mich werden würde. Tatsächlich habe ich mich schon fast gefragt, ob ich Marcus bei uns im Haus behalten kann, so seltsam und irritierend finde ich ihn.
Zunächst einmal weigert er sich zu sprechen. Wir wissen noch nicht, ob er nun in die Besserungsanstalt geschickt worden war oder nicht und ob er von dort weggelaufen ist oder überhaupt nicht in Århus war. Wenn ich ihn – sehr geduldig – danach frage, blickt er mich bloß verwirrt und mit dümmlich offenstehendem Mund an, und dann dreht er sich unvermittelt um, rennt weg und versteckt sich an den ungewöhnlichsten Plätzen, so daß wir ihn oft stundenlang nicht finden können.
Ich habe zu Emilia gesagt, daß wir ihn von seiner Angewohnheit, sich immer zu verstecken, kurieren müssen, doch sie erklärte mir, er habe sich immer vor seiner Stiefmutter Magdalena versteckt und werde sich weiter so verhalten, bis er ganz sicher sein könne, daß sie nicht da ist. Er ist so klein, daß er sich in einer Schublade verstecken könnte. Gestern hielt er sich in einem leeren Brennholzkorb verborgen. Ich habe noch niemanden gekannt, der so gespenstisch ist.
Und er klammert sich an Emilia. Er kann es fast nicht ertragen, nicht bei ihr zu sein. Ich bereue inzwischen, zu ihr gesagt zu haben, sie solle Marcus nicht aus den Augen lassen, denn sie nimmt ihn nun ständig auf den Schoß und wiegt ihn wie ein Baby. »Emilia, meine Liebe«, habe ich zu ihr gesagt, »ruf einen Diener, damit Marcus in der Küche oder im Spülraum beschäftigt wird und wir nicht immer beim Kartenspielen unterbrochen werden.« Doch wenn sie das tun will, weigert sich Marcus zu gehen, bricht in Tränen aus und ruft: »Emilia! Emilia!« Und unser Spiel ist ganz verdorben.
All dies ist für mich eine harte Geduldsprobe. Ich habe Kinder noch nie gemocht. Sie sind barbarische Affen. Sie geben sich keine Mühe, die Regeln zu erlernen, nach denen die Menschen zu leben versuchen.
Sosehr ich auch die jetzige Dunkelheit auf Boller liebe, würde ich doch am liebsten die Türen und Fensterläden wieder öffnen und wäre ernsthaft versucht, Marcus seinem Vater Johann Tilsen, wenn dieser ihn bei uns suchen würde, ZURÜCKZUGEBEN . Ich kann es nämlich nicht ertragen, Emilia in eine kleine Mutter verwandelt zu sehen, während sie vorher nur an mein Wohlbefinden und mein Glück dachte. Die Stunden, die wir gemeinsam im Garten von Rosenborg verbracht und Aquarelle gemalt haben, und zwar ohne die jetzigen Ablenkungen, sind mir noch in glücklicher Erinnerung.
Doch was kann ich im Hinblick auf Marcus tun, nach allem, was ich Emilia versprochen habe? Ich habe ihr gesagt, wir würden eine glückliche Familie sein. Ich habe ihr gesagt, ich würde mich um den Knaben kümmern, »ihn als mein Kind aufziehen«. Und ich habe gesagt, er würde endlich glücklich werden. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, daß er glücklich ist. Nachts weint er im Bett, und Emilia muß immer wieder aufstehen, um ihn zu trösten. Sie hat schon dunkle Ringe unter den grauen Augen, weil sie dermaßen ihres Schlafes beraubt ist. Er sagt zwar ein paar Worte mehr als am Anfang (eins davon ist »Otto«), ist aber, was seine Sprache und sein Benehmen angeht, der Normalität nicht näher gekommen. Er ißt nur ganz wenig. Er hat Angst vor mir und gibt mir nicht die Hand. Nachts macht er ins Bett. Und muß – was am schlimmsten ist – von Dorothea ferngehalten werden, weil jeder deutlich sehen kann, daß ein bitterer Haß in seinen Augen liegt, wenn er sie ansieht. Ich behaupte, daß er sie am liebsten mit einem Feuereisen totschlagen, ihre Wiege mit den Füßen die Treppe hinunterstoßen oder ihre Zudecke in Brand setzen würde.
Ich habe Emilia gesagt, daß für Marcus ein Kindermädchen eingestellt und ihm ein Zimmer gegeben werden muß, das von meinem weiter entfernt ist. Doch sie hängt so an diesem kleinen Gespenst, daß sie wegen meiner Strenge weint und mich bittet, Geduld zu haben. »Emilia, meine Liebe«, erkläre ich dann, »sprich mir nicht von Geduld, denn du weißt nur zu gut, daß ich keine habe.«
DIE GESTALT IN DER LANDSCHAFT
In den Straßen Kopenhagens wird der Beginn des neuen Jahres, des neuen Jahrzehnts , mit unverhohlenem Prunk gefeiert.
Einiges davon ist inszeniert – musikalische Kapriolen, Kunst-stückchen von Tieren, Bodenakrobatik und Stelzenlaufen –, manches entsteht aber auch einfach aus der
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