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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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schönen Bildern bedeckt. Niemand kann sich daran erinnern, wer der Künstler war und warum oder wann diese Wandmalereien in Auftrag gegeben wurden. Sie stellen eine heitere, phantastische Landschaft mit Blumen und Blättern dar, und inmitten des Laubes sieht man eine Vielzahl von Insekten, die wesentlich größer sind als in Wirklichkeit und überall herumkriechen, -flitzen und -flattern, so daß man beim Betreten des Zimmers fast das Summen der Bienen, das Surren der Wespen und Schwirren der Libellen hört.
    Als Marcus Tilsen diese Tiere zum erstenmal zu Gesicht bekam, schien er auf der Stelle seinen Kummer darüber, daß sein Bett aus Emilias Zimmer entfernt worden war, zu vergessen, und er stieß kleine Freudenschreie aus. Er ging zu einer Wand und erforschte sie vorsichtig mit den Händen. Zuerst strich er über einen auf einem purpurnen Blatt kriechenden Käfer und zog die Umrisse seines blauschwarzen Körpers mit dem Zeigefinger nach, dann tastete er eine Motte ab, die mit geschlossenen Flügeln wie eine gesprenkelte Pfeilspitze auf einem Moosklumpen saß, und schließlich eine vor dem strahlenden Himmel fliegende Biene.
    Emilia beobachtete ihn. Es war mit Marcus schon immer so gewesen, daß gewisse Phänomene seine Aufmerksamkeit so beanspruchten, daß er sich in ihnen zu verlieren schien, fast selbst zu ihnen wurde – das Wasser des Pferdetrogs, das Lied des aufziehbaren Vogels, die Possen seines Katers Otto –, und Emilia begriff sofort, daß dieses Zimmer für Marcus wie ein Königreich war, wo seine Gedanken auf einer ständig wiederkehrenden Entdeckungsreise Schleifen drehen und umherreisen würden.
    Er ging von Tier zu Tier und begann leise murmelnd auf sie einzureden, in einem sanften Strom von Worten, die er anderen, von Emilia abgesehen, immer noch verweigerte, wenn sie mit ihm sprachen, die aber in ihm und nicht vergessen waren. »Käfer«, sagte er, »auf deinem roten Blatt blauer Körper leuchtendrotes Blatt im Wald Motte viel weicher aus Staub gemacht bleibt alle bei mir und hört auf mich und bleibt auch noch bei mir wenn es Nacht wird und Biene gelbe und schwarze bleib auch aber summe ganz leise wenn die Dame schläft …«
    Er wollte sein Bett an die Wand gestellt haben, in Reichweite des Käfers, der Motte und der Biene und auch noch nah genug an der Libelle, damit er diese, wenn er sich auf seiner Liege auf die Zehenspitzen stellte, erreichen und berühren konnte. Das Gespräch, das Marcus mit den Insekten in dem Augenblick begonnen hatte, als er zum erstenmal ins Zimmer trat, ging fast ohne Unterlaß weiter. Er begann es sofort beim Aufwachen und flüsterte ihnen noch beim Einschlafen im Kerzenlicht zu. Er sagte ihnen, wohin sie fliegen, wo sie sich verstecken, wen sie stechen und wie sie den Himmel nach Boten absuchen sollten. Er bat sie, von der Wand herunter auf ihn zu hüpfen, so daß sie es in seiner Hand warm hatten oder sich ein Nest in seinem Haar bauen konnten. Er zählte sie: eins zwei drei vier fünf sechs sieben Spinnen eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht neun zehn elf Marienkäfer, aber nur eine Ameise.

    Eines späten Abends sagte Emilia zu Kirsten: »Ich bringe Marcus mit den gemalten Insekten Rechnen bei. Außerdem denken wir uns zusammen Geschichten über sie aus, damit er neue Wörter lernt und eine neue Vorstellung von der Welt bekommt, und dann machen wir von ihnen Kohlezeichnungen.
    Kirsten sah verärgert aus. »Emilia«, fuhr sie die junge Frau an, »du weißt, daß Marcus recht einfältig und zurückgeblieben ist. Bei solchen Kindern ist es besser, wenn man sie in ihrer eigenen Welt läßt, weil aus ihnen nie etwas wird.«
    »Marcus ist einfältig«, antwortete Emilia, »weil außer mir noch niemand versucht hat, ihn zu verstehen. Doch warum soll er das sein Leben lang bleiben?«
    »Weil es nun mal sein Zustand ist!«
    »Aber kann sich dieser nicht ändern, wenn ich anfange, ihn zu unterrichten?«
    »Das halte ich für unwahrscheinlich.«
    »Trotzdem, ich muß es versuchen …«
    »Darf ich dann mal fragen, wann du dich dieser Unterrichtsorgie hingeben willst? Wieviel Zeit bleibt dir denn neben der, die du mir als meine einzige Frau pflichtgemäß schuldest?«
    Kirsten stolzierte jetzt im Zimmer umher, und vor Zorn schwollen ihr die Adern an bis hinunter zu ihren zarten Füßen.
    Emilia kannte Kirsten inzwischen gut genug, um die Anzeichen dafür zu erkennen: das Aufblähen ihrer Nasenlöcher, der starke Glanz ihrer Augen und die merkwürdigen Gesten ihrer

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