Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Warten auf ein Wort oder die Meinung Seiner Majestät ist ein Phänomen, das alle, die mit ihm zu tun haben, nur allzugut kennen. Man weiß, daß es junge Höflinge gibt, die heimlich üben, lange Zeit stillzusitzen, ohne zu gähnen, zu zappeln, zu niesen oder auch nur das kleinste Anzeichen von Ungeduld. Sie finden es aber alle unangenehm. »Seine Hunde laufen frei herum«, hat der junge Lord Wetlock-Blundall einmal ärgerlich bemerkt, »doch wir müssen uns in Sphinxe verwandeln!«
Auch jetzt dauert es drei oder vier Minuten, ehe der König auf Langton Smythes Frage antwortet. In dieser Zeit legt ein Wagen eine Meile zurück, schießt und lädt ein Musketier fünfundzwanzigmal, seift eine Wäscherin mehrere Hemdkragen ein und verändert der Mond seine Stellung am Himmel um ein Bruchstück. Doch der Botschafter macht natürlich keinen beunruhigten Eindruck. Er wartet einfach, und dieses Warten macht seine ganze Existenz aus.
Schließlich sagt der König: »Wir haben Mitgefühl. Das ist so, weil Wir dem König von Dänemark wohlgesinnt sind. Wir sind aber diesmal nicht geneigt, ein Geschenk zu machen, ohne um eine Gegenleistung zu bitten. Was, glaubt Ihr wohl, könnte Uns Unser Onkel anbieten?«
Diese Frage kommt für Langton Smythe unerwartet. Nun ist er es, der den Raum in Schweigen hüllt, während er hastig nach einer Antwort sucht. Aus einem ihm selbst unerfindlichen Grund wandern seine Gedanken zu dem längst vergangenen Sommer und dem Konzert im Garten von Rosenborg, zur Schönheit der dort gespielten Musik und zum Stolz König Christians auf sein Orchester. Und so klammert er sich daran. »Vielleicht …«, stammelt er, »vielleicht würde Euch Euer Onkel den einen oder anderen seiner Musiker borgen … oder vielleicht sogar schenken.«
»Seine Musiker? Sind sie denn berühmt?«
»Ja, Sir. Ihr Spiel ist von einzigartiger Vollkommenheit, wie auch Euer Majestät sofort feststellen würden.«
König Charles sieht den Botschafter kühl an. »Eine solche Vollkommenheit kann aber nur vom ganzen Ensemble erzielt werden! Wollt Ihr damit sagen, daß mir Unser Onkel alle geben würde?«
Einen Augenblick lang sieht Langton Smythe hilflos aus. »Nein …«, wagt er schließlich zu äußern. »Das glaube ich nicht, Sir. Es gibt da aber einen, einen Lautenspieler, einen Engländer, der einen sehr reinen Soloklang erzeugt … und er …«
»Ein englischer Lautenspieler? Aber er ist doch hoffentlich nicht mit Dowland verwandt?«
»Nein, Euer Majestät. Er heißt Mr. Claire.«
Bei dem Wort »Claire« tritt ein seltsames Phänomen auf: Das Gesicht des Königs verzieht sich zu einem Lächeln. So wie »Caravaggio« (was ihn an Karawanen und Reisen unter südlicher Sonne denken läßt) für den größten Meister des Lichts perfekt paßt, so ist »Claire« (weil es an Klarheit, Helligkeit und Mondschein denken läßt) für einen Lautenspieler bewundernswert richtig. »Sehr gut«, sagt er. »Das interessiert Uns. Geht nach Dänemark zurück und bittet Unseren Onkel, Uns Mr. Claire zu schicken! Oder sollen Wir ihm selbst schreiben?«
Der Botschafter Langton Smythe fühlt sich plötzlich unbehaglich auf seinem Stuhl. Es wird ihm bewußt, daß er vielleicht etwas Dummes vorgeschlagen hat, etwas Heikles, das nie hätte erwähnt werden dürfen und zu einem Riß in der Freundschaft der beiden Könige führen könnte. Und bei einem derartigen Streit würde man ganz bestimmt ihm die Schuld geben; und wenn man ihm die Schuld gab, würde er seines Amtes enthoben und seines jährlichen Gehalts, seines Hauses und seiner Zuteilung an rotem Bordeaux beraubt.
Er spürt, wie ihm beim Gedanken an diese Katastrophen Gesicht und Hals ganz heiß und rot werden. Er würde das Gesagte gern wieder ungesagt machen. Doch es ist zu spät. König Charles hat sich erhoben – und damit die Audienz beendet – und geht schon wieder durchs Zimmer, um seine Lieblingsstellung am Fenster einzunehmen. Er teilt dem Botschafter mit, er werde König Christian selbst schreiben und »um die Versetzung Mr. Claires für eine so hübsche Geldsumme bitten, wie es Unsere Börse erlaubt«, und wünscht ihm dann einen guten Tag.
AUS GRÄFIN O’FINGALS TAGEBUCH,
»LA DOLOROSA«
Wir sind in einem Waldland.
Ich wußte nicht, daß so viele Bäume über so viele undurchdringliche Meilen hinweg so dicht nebeneinander wachsen können. Und der Duft der Tannen, als der Schnee auf ihnen schmilzt, und ihre Dunkelheit und die noch größere darunter lassen mich in ihnen
Weitere Kostenlose Bücher