Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Demütigungen und Mißlingen fürchtet. Und diese Angst macht samt den Magenproblemen jede einzelne Minute der Reise zur Qual. Sie blickt zu den weichen weißen Wolken hinauf. Am liebsten würde sie ihre Kleidung lockern, ihre Zähne herausnehmen und sich auf eine Wolke legen und erst wieder aufwachen, wenn ihre Zukunft hübsch geordnet vor ihr liegt. Sie ärgert sich über Ellen Marsvin, weil diese sie in einen Plan einbezogen hat, der zum Scheitern verurteilt ist und nur Kummer bereiten kann. Sie kann sich nicht erinnern, sich schon einmal so elend gefühlt zu haben.
»Halt aus, meine Liebe!« sagt Ellen, als sie in Horsens das Schiff besteigen. »Man kann ein Ziel nur erreichen, wenn man vorher ein bißchen gelitten hat.«
Doch es ist eine rauhe Überfahrt, und Vibeke sieht den Inhalt ihres Magens auf den schwarzen Wogen davonschwimmen und spürt ihre Haut alt werden wie die eines Leichnams. Sie stellt sich vor, auf dem kalten Meer zu sterben, in dieser salzigen Vorhölle, die den einen Teil Dänemarks vom anderen trennt, und hat das Gefühl, daß es immer so gewesen ist, daß sie sich immer irgendwo zwischen Abreise und Ziel befand. Sie hatte Kirsten nur in Erwartung einer besseren Anstellung gedient, die sie nie bekam. Sie hatte sich Ellens Regime nur unterworfen, weil sie glaubte, deren Plan würde alles lohnenswert machen, und nun weiß sie nicht, ob er ihr das Erhoffte bringen oder sie mit nichts zurücklassen wird. Und etwas in ihr, das nicht mit Blaubeerkuchen und Vanilleobstspeisen mit Sahne beschäftigt war, hoffte auf Liebe. Doch auch in dieser Hinsicht ist Ellen immer streng gewesen. »Vibeke«, hatte sie ernst zu ihr gesagt, »Liebe wird es nicht geben.«
Das Schiff treibt im Westwind schaukelnd weiter. Die Seevögel folgen: ein heiserer, ruheloser Chor, grauweiß vor dem Weiß des Himmels.
DRITTER TEIL
Stiller Frühling
1630
DAS BEGEHREN DES KÖNIGS CHARLES I.
VON ENGLAND
Er steht gern still da.
Er mag es, sich im Whitehall-Palast, wenn die Morgensonne allmählich die Glasscheibe erwärmt, an ein bestimmtes Fenster zu stellen, hinunterzublicken und die im Hof herumhastenden Menschen zu beobachten. Manchmal schaut dann jemand zu ihm herauf, weil es inzwischen bekannt ist, daß man so gelegentlich einen Blick auf den regungslosen, sich wie ein Schatten im hohen Fenster abzeichnenden König erhaschen kann.
Immer wieder wird im Palast darüber gesprochen:
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja, einmal.«
»Was er wohl denkt?«
»Wie soll man es wissen?«
Erst mit sieben lernte er laufen. Jetzt mit dreißig hat er wohl eine anmutige Haltung, doch sein Gang läßt noch immer etwas von den Mühen und Demütigungen seiner Kindheit erahnen, eine Art Zögern, zwar nicht direkt ein Hinken, aber immerhin eine deutliche Abneigung , einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Er steht regungslos, und ohne zu sprechen, am Fenster. Und die Höflinge hüten sich, ihn zu stören, wenn er sich so entschieden abgewandt hat. Sie wissen, daß diese Ruhe und Stille seine Seele tröstet. Denn ebenso wie ihm das Gehen unangenehm bleibt, so fällt es ihm schon schwer, sich mit einfachen Worten auszudrücken. Nicht daß er im Kopf nicht weiß, was er sagen will, sondern er ist einfach nicht in der Lage, es zu äußern. Wenn er Selbstgespräche führt, redet er vollkommen klar und wortgewandt, auch in Gesprächen mit Gott, den er sich als engen Verwandten vorstellt, der in alle seine Schrullen und Gewohnheiten eingeweiht ist. Es ist für ihn jedoch mühsam, das Wort an seine Untertanen zu richten. Manchmal stottert er dann sogar.
Was die Gedanken, Ziele, Bemühungen und sogar die Genialität des einfachen Mannes angeht, so zieht es König Charles I . von England vor, deren Früchte vorgelegt zu bekommen – die abschließende mathematische Gleichung, das Sonett, dessen Rhythmus gleichmäßig wie der Puls ist, das Porträt, das bis zum letzten Tüpfelchen fertig und komplett ist, die Musikdarbietung ganz ohne Steckenbleiben und falsche Töne –, ohne etwas von den vorausgehenden Anstrengungen mitzubekommen. Bevor es einem Menschen gelingt, seine Visionen in der beabsichtigten Form darzustellen, liegen üblicherweise konfuse Bemühungen. Von diesen will der König nichts merken. Er kann nur das bewundern, was sich als Kunst niedergeschlagen hat und ihm als solche vorgelegt wird. Stillschweigend bestaunt er dann das, was er sieht oder hört. Seine Prunksäle sind voller Gemälde der Renaissance-Meister. Seine Liebe zu den Bildern
Weitere Kostenlose Bücher