Melville
blicke
zögernd nach oben. Die Schachfigur! Sie ist noch da. Also war sie
gestern keine Vision, kein Streich... oder?
Ich
schließe noch einmal kurz die Augen und konzentriere mich auf meine
Sinne. Nein, sie war kein Traum, ich rieche sie noch an mir und jetzt
erst bemerke ich auch den leichten Schmerz. Ich fasse nach den
kleinen Bisswunden auf meiner Brust. Ich muss anfangen zu lächeln,
obwohl es durch die Berührung eigentlich mehr wehtut.
Sie.
Ich
greife nach oben, nehme die kleine Schachfigur vom Kopfende. Sie ist
erstaunlich leicht und anscheinend nicht aus Holz oder Stein. Aber
Kunststoff ist es auch nicht. Und nach längerem Betrachten und
Befühlen wird mir klar, aus was die Dame besteht. Aus Knochen,
gefärbten Knochen. Und bei dem Ursprung dieses Glücksbringers würde
ich auch auf Menschenknochen tippen. Ich wende sie in meiner Hand und
erkenne jetzt erst die Gravur am Boden. ‘Sophia’. Ist das ihr
Name? Sophia? Ich beuge mich auf, fast schon zärtlich und
beschützend halte ich das Stück Knochenkunst dabei in meiner Hand.
Sophia.
Ich
erhebe mich und achte peinlichst genau darauf, dass die Schachfigur
immer weniger als einen Meter Abstand zu mir hat. Sie hat mir die
Funktion ja erläutert, doch es ist mehr als die Abwehr eines Irren,
der sich einen Spaß mit mir erlaubt. Nein, diese Figur soll sie
sein, wie sie mich beschützt, für mich da ist und unsichtbare
Feinde fernhält. Es war bestimmt dieser Herr Lange, der Primogen der
Malkavianer, damals im Elysium. Ja, wahrscheinlich, aber ich habe
keine Handhabe gegen ihn. Aber er wird sicher versuchen, seine
Kontrolle über mich wieder zu erlangen, ich sollte ihm dringend
fernbleiben. Oder ihm das falsche Grinsen vom Gesicht schneiden und
an Hunde verfüttern! Dennoch war das erste Erlebnis mit Benedict,
als ich im Wagen an einer Vision von ihm vorbeifuhr, zeitlich vor dem
Treffen mit Herr Lange. Vielleicht muss ich mir eingestehen, einfach
ein wenig… nun, ja, seelisch belastet zu sein.
Ich
brauche fast eine Stunde, um meine Vorbereitungen abzuschließen. Ich
wasche und pflege ausgiebig meine Haut und mein Haar, wähle die
Farbe meines Anzuges mit Bedacht aus und nehme meine bessere Uhr
heute mit zum Klüngeldienst. Ertappe mich sogar dabei, wie ich in
den Spiegel blickend darüber nachdenke, meine Haare eventuell anders
zu tragen oder sogar zu färben. Einfach nur, um es mal sehen zu
können, dass der Effekt nicht von Dauer ist, ist mir klar.
Ich
suche mein erlesenes Parfum und lasse James meine Schuhe noch einmal
putzen, bevor ich sie anziehe. Obwohl er dies jeden Morgen tut, nach
dem ich in Ruhestarre falle, verlange ich absolute Reinheit. Und er
ist sehr bemüht meinen Ansprüchen gerecht zu werden. Doch das ist
gerade nicht wirklich einfach. Es gibt keinen endgültigen Zustand
der Perfektion, wenn die Möglichkeit besteht, sie wieder zu treffen.
Der
Dienst heute ist für mich fast schon erträglich. Mich kümmern die
Beleidigungen durch Laura nicht. Ich bin innerlich noch viel zu
erfreut darüber, die gestrige Eroberung meiner Angebeteten gewesen
sein zu dürfen.
Die
Details zum Fall fügen sich nach und nach zusammen. Das gesuchte
Krankenwagenmodell hat zwar kein Ortungssystem an Board, aber
Katharina lässt sämtliche zugänglichen Überwachungskameras der
Stadt laufen, um für uns nach dem Wagen zu suchen. Doch bis jetzt
waren alle erkannten Fahrzeuge staatlich registrierte Wagen. Unsere
Täter sind wohl kaum im echten Einsatz unterwegs. Doch die Suche
läuft aktiv.
Ich
weise Alex schon darauf hin, dass ich bald einen Bericht für den
Prinzregenten benötige. Seine Schreibertätigkeit sollte dies auch
mit einschließen und er nimmt schweigend die Aufgabe entgegen.
Laura, Noah und Alex haben für ihr anklagendes Verhalten mir
gegenüber keine Entschuldigung hervorgebracht. Und ich werde das
erst recht nicht tun. Noah macht allgemein einen schlecht gelaunten
Eindruck, aber wieder nehme ich es nur zur Kenntnis, als
nachzufragen. Ja, innerlich habe ich mich bereits von ihnen allen
verabschiedet. Im Grunde genommen war mir meine Reputation im Klüngel
egal. Ebenso, ob Frau Mühlbach mich hasste, Herr Lange mich
verfolgte oder Liam mich verachtete. Während Noah und Laura noch
einmal ihre genauen Eindrücke des Tatorts schildern, muss ich
plötzlich lachen und die anderen sehen mich irritiert an. Der
Gedanke, als Klüngelsprecher hier zu sitzen, während der Sabbat
bereits mehr Unterlagen und Übersicht aller beteiligten Klüngel als
die
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