Melville
Sie irritiert mich in einem ganz erheblichen Maße
und ich muss in meinen Erinnerungen kramen, wie man mit Kindern wohl
umgehen könnte.
„Ich
bin noch nie schlafengegangen, wenn meine Eltern es wollten.“.
„Wo
sind denn deine Eltern?“.
„Tot.“.
Ihre Stimmlage hat sich nicht verändert und ihre freudige
Körpersprache nicht gemindert.
„Tot?“.
„Ja.“.
„Hmm,
meine auch.“. Ich weiß nicht, warum ich ihr das sage, aber ich
verspüre das Bedürfnis auf sie einzugehen. Und außerdem kann ich
sie nicht aus den Augen lassen, anscheinend wurde ich ja jetzt zu
ihrer Bewachung auserkoren.
„Es
ist ganz normal, dass Eltern vor ihren Kindern sterben.“, sagt sie
sachlich und mich beschleicht das erste Mal der Verdacht, sie könnte
mehr als nur ein kleines Mädchen sein. Schließlich sitzt sie auch
im Wartebereich der Erzbischöfin.
„Entschuldige
mich kurz.“.
„Klar.“.
Ich erhebe mich und hole mein Handy hervor. Sophia ist nicht im Haus,
sie trifft sich mit den Gruppenführern der großen Einsatztruppen,
um das weitere taktische Vorgehen zu planen. Und wie eigentlich auch
erwartet, meldet sich ihre Mailbox und kurz darauf erhalte ich die
automatisch generierte Textnachricht, dass sie zurzeit nicht
abkömmlich ist. Ich habe sie um diese Funktion gebeten, damit ich
mir keine Sorgen machen muss, falls ich sie nicht erreiche. Die
Unfähigkeit zu verspüren, wenn man jemand Vertrauten nicht
erreichen kann, hat mich zu dieser Maßnahme bewogen. Etwas
unschlüssig stecke ich das Smartphone zurück und blicke sie an.
„Niemand
da?“, fragt sie neugierig.
„Sieht
wohl so aus.“, sage ich nur, hebe den Zeigefinger und nicke kurz
als Zeichen, dass sie warten soll. Sie zuckt nur mit den Schultern
und greift nach ihrem Teddybären, um ihn sich auf den Schoß zu
setzen.
Ich
gehe zur Eingangstür und spreche eine der beiden wachhabenden
Gangrel an, die dort zu Sophias Sicherheit postiert sind. Seit
einigen Wochen lebt ein Rudel mitsamt Alpha auf dem Gelände und
sorgt für weiteren Schutz, da die Auseinandersetzungen immer
heftiger werden und man eine Enttarnung durch die Camarilla nicht
ausschließen kann.
„Das
kleine Mädchen, das im Wohnzimmer sitzt. Warum wurde sie
reingelassen?“. Das leicht vernarbte und ledrige Gesicht des
Kämpfers wendet sich zu mir und er antwortet mit brummiger Stimme
„Frau
Annikova hat sie heute Abend angemeldet, das ist Frau Rausch.“.
„Sie
ist ein Menschenkind.“. Er belächelt mich ein wenig und nach
seiner Antwort weiß ich, dass er meine Sinne wohl für verkümmert
hält.
„Nein,
das ist sie ganz und gar nicht. Sie gehört zu uns.“. Erst bin ich
vor den Kopf gestoßen, aber natürlich wird mir dann klar, dass es
nicht anders sein kann. Doch wer erschafft ein Kind? Ich drehe mich
auf dem Absatz um und gehe zu ihr zurück. Sie spielt mit ihrem
Teddybären und scheint sich mit ihm zu unterhalten.
„… findest
du? Ich denke, er ist eigentlich ganz lustig…“. Ich räuspere
mich leise hinter ihr und trete dann neben sie.
„Frau
Rausch, es tut mir sehr leid, dass ich fälschlicherweise angenommen
habe, sie wären ein Kind.“.
„Das
macht nichts, Melville, ich sehe ja auch wie eines aus.“. Und ihre
Wangen drücken ihre Augen zu kleinen Halbmonden zusammen, als sie
amüsiert grinsen muss. Sie kennt meinen Namen, woher?
„Wie
heißt du denn?“, gehe ich auch wieder in das ‚du‘ über, da
sie sich der formalen Rhetorik auch nicht bedient. Sie klopft auf die
freie Fläche neben sich und setzt dann ihren Bären auf die andere
Seite. Ich setze mich zu ihr. Es ist merkwürdig, ich bin sicher
einen halben Meter größer als sie.
„Ich
bin Annemarie. Schön dich kennenzulernen.“. Und sie streckt mir
ihre kleine Hand entgegen. Fast habe ich bedenken, ich könnte ihre
Fingerchen zu sehr quetschen, also drücke ich sie nur zaghaft.
„Angenehm.
Netter Name.“, sage ich.
„Anna
ist hebräisch für ‚Begnadete‘ und Maria heißt ‚geliebt
werden‘.“.
„Ist
das so?“.
„Ja,
hat dein Name auch eine Bedeutung?“. Sie meint ihre Frage ernst.
„Außer,
dass ein Mann mit meinem Namen als Familienname ein Buch über einen
großen, weißen Wal geschrieben hat, denke ich nicht.“.
„Ist
doch lustig. Wenn du jetzt einen einbeinigen Erzfeind hättest, wäre
es doch sehr passend.“.
„Ich
heiße aber nicht wie der Wal.“. Ihr Gesicht verzieht sich ein
wenig und sie wirkt traurig über meine Aussage und flüchtig keimt
in mir der Gedanke,
Weitere Kostenlose Bücher