Memed mein Falke
zuckte ein Blitz; für einen Augenblick waren Stamm und Äste des Maulbeerbaums in einem goldenen Licht zu erkennen. Der grelle Strahl dieser Sekunden drang auch in Memeds inneres Dunkel.
Das Dorf schlief jetzt. Pferde, Esel, Rinder, Ziegen, Schafe, Hühner, Katzen, Hunde und Käfer hatte der Schlummer umfangen, der allen Haß und alle Liebe, alle Angst, Sorge und Tapferkeit ruhen ließ. Nur die Träume lebten. Die menschliche Vorstellungskraft kennt keine Grenzen, so eng auch sein Lebenskreis sein mag. Auch dem, der nicht über das Dorf Değirmenoluk hinausgekommen ist, steht die ganze, endlose Welt der Phantasie offen, eine Welt, die sich weit über diese Erde hinaus erstreckt. Sie reicht manchmal über das Firmament hinaus, sogar noch hinter den Berg Kaf. Sie verwandelt die prosaischen Orte der Wirklichkeit im Traum in ein Paradies. Selbst in Değirmenoluk, in diesem Dorf der Geplagten, waren jetzt verwandelte, unter der Schicht des Schlummers hervorgebrochene Welten an die Macht gelangt. Auch Memed lebte in der Welt der Traumgesichte, die mit Visionen der Angst abwechselten. Und wenn sie jetzt nicht kam? Allerlei Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf: Ich weiß, was ich zu tun habe, wenn sie nicht kommt. Als seine Hand den Griff der Pistole berührte, waren Angst und Hilflosigkeit vergessen, wie weggewischt.
Als er das Geräusch von leichten Schritten hörte, schämte er sich seiner Gedanken. Hatçe stand vor ihm. Wäre es heller Tag gewesen, hätte sie sein Gesicht sehen können, so hätte sie bemerkt, wie er erst blaß, dann rot wurde. Sie hätte aber auch erschrecken müssen über das, was in seiner entschlossenen Miene zu lesen war.
»Ich habe dich lange warten lassen. Mutter wollte nicht schlafen.«
Die Hände ineinander verschlungen, gingen sie. Um kein Geräusch zu machen, traten sie so vorsichtig auf, als schwebten sie nur über dem Boden. Bevor sie aus dem Dorf hinaus waren, hatten sie sich kaum zu atmen getraut; jetzt fühlten sie sich schon etwas freier, und ihre Angst ließ langsam nach.
Memed trug das Bündel mit Hatçes Habseligkeiten. Aus dem Rieselregen wurde ein Wolkenbruch. Ringsumher flammten die Blitze. An der Felsengruppe vorbei waren sie in den Wald gelangt. Immer wieder wurde die Umgebung taghell erleuchtet. Man sah das Wasser in Strömen an den Baumstämmen entlangrinnen. Hatçe brach in Schluchzen aus. Memed wurde zornig.
»Das fehlt jetzt noch, daß du zu heulen anfängst.«
Ziellos irrten sie durch den Wald. Bis es dämmerte, wußten sie nicht, wo sie sich befanden. Es regnete unaufhörlich.
Hatçe, in ohnmächtigem Zorn, rief bei jedem Schritt Allahs Fluch gegen den strömenden Regen herab. Bei Morgengrauen entdeckten sie eine Felshöhlung. Über und über zitternd, standen sie aufrecht darin. Die Kleider klebten ihnen am Leibe. Dem Mädchen rann immer noch das Wasser aus den Haaren.
»Wenn der Zunder nicht naß geworden ist, machen wir ein Feuer und trocknen uns erst mal«, sagte Memed zähneklappernd. »Aber freue dich nicht zu früh«, fügte er auf Hatçes hoffnungsvolles Lächeln hinzu, »wir haben viel Regen abgekriegt - das Wasser kann auch in den Lederbeutel gedrungen sein - bei uns reicht es ja auch bis unter die Haut!«
Mit zitternden Fingern machte er sich daran, den an seinem Leibgurt befestigten Beutel aufzuschnüren. Dann starrte er hinein. Ihre ganze Hoffnung lag in diesem Ledersäckchen. Sie schauten sich an, lächelten. Das Wasser war nicht ins Innere gedrungen.
»Weißt du, wer diesen Beutel genäht hat?« fragte Memed. »Onkel Süleyman hat ihn mir gemacht, zu dem ich damals durchgebrannt war. Ich habe ihn seither aufbewahrt, als Andenken an ihn.« Dann blickte er ratlos um sich. »Weit und breit nichts Trockenes - wie soll ich nur meine Hände trocken kriegen? Der Zunder wird naß, wenn ich ihn anfasse.«
»Um Himmels willen, faß ihn nicht an!«
»Wart nur, du wirst gleich sehen, wie ich mir die Hände trockne!« sagte er voller Entdeckerfreude.
Er trat an die Rückwand der Höhle. So weit war der Regen nicht gedrungen, die trockene Erde stäubte. Er steckte die Hände hinein, zog sie mit einer Staubschicht bedeckt wieder heraus.
»Na, siehst du?« Er streckte Hatçe seine Hände entgegen. Sie lächelte.
»Los, Hatçe! Geh Reisig und Zweige sammeln!«
Sie sprang hinaus in den Regen. Bald kehrte sie mit einer großen Traglast Reisig zurück. Das Zweigwerk war zum Glück nur außen feucht. Sie brachen es in kleine Stücke, schichteten es in der
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