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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Glas, nicht Scherben, sondern sauber geschnittenen geometrischen Figuren. Pressia kann sich nicht an das Wort für diese Art von Lampen erinnern. Sie hat gehört, wie ihr Großvater es benutzte, als sie mit Freedle spielte. Er hatte eine Kerze in Freedles Käfig gestellt, die den Raum von oben in ein hübsches Licht tauchte.
    Sie denkt an Bradwell. Sie kann nicht anders. Was würde er zu dieser Zurschaustellung von Reichtum sagen? Er würde es krank nennen. Du weißt, dass Gott dich liebt, weil du reich bist! Sie kann förmlich hören, wie er über diese Behausung herzieht. Sie weiß, dass sie es genauso abstoßend finden sollte. Wer kann guten Gewissens hier leben, wenn er weiß, wie alle anderen ihr Dasein fristen? Doch es ist ein Zuhause – ein wunderschönes Zuhause. Sie würde gerne hier wohnen. Sie liebt das glänzende runde Holz der Stuhllehnen, die samtenen Vorhänge, die verzierten Griffe des Silberbestecks. Irgendwo oben muss es eine Badewanne geben und ein großes weiches Bett. Es verspricht Wärme, Sicherheit, Frieden. Ist es so falsch, sich nach so einem Leben zu sehnen? Sie kann Bradwells Gesichtsausdruck vor ihrem geistigen Auge sehen, wenn er antwortet: Allerdings. Es ist völlig falsch. Sie ruft sich ins Gedächtnis, dass es keine Rolle spielt, was Bradwell denkt. Sie wird ihn wohl nie wiedersehen. Der Gedanke erfüllt sie mit schmerzlicher Sehnsucht. Sie wünschte, es wäre nicht so. Sie wünschte, er wäre ihr egal.
    Auf dem Tisch liegt ein großer brauner Umschlag, auf dem in dicker schwarzer Tinte ihr Name steht: Pressia Belze. Das ist unheilvoll, doch sie kann sich nicht erklären warum. Statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf das Essen – eine Schale heller ölglänzender Maiskörner, die Austern in halber Schale (jedenfalls vermutet sie, dass es die Austern sind, unförmige braune Klumpen in Wasser in weißen perlmuttfarbenen Muschelschalen) sowie Eier. Ganze Eier, weiß, hart gekocht, geschält, geteilt, mit gelben Dottern. Sind das die Altertümlichkeiten, an denen Ingership »bastelt«? Die immer noch nicht ganz perfekten? In Pressias Augen sehen sie perfekt aus.
    Der Tisch ist für sechs Personen gedeckt. Pressia fragt sich, ob noch jemand erwartet wird. Ingership nimmt am Kopfende des Tisches Platz, und seine Frau – deren Namen Pressia bisher nicht erfahren hat – zieht den Stuhl zu seiner Linken hervor. »Hier, bitte sehr«, sagt sie zu Pressia. Pressia setzt sich, und Ingerships Frau hilft ihr, den Stuhl wieder an den Tisch zu schieben, als wäre Pressia behindert. Sie klemmt den Puppenkopf unter den Tisch.
    »Limonade?«, fragt Ingerships Frau.
    Limonen – Pressia weiß, was Limonen sind, aber sie hat noch nie Limonade getrunken. Wo sollte sie auch Limonen hernehmen?
    Ingership nickt, ohne sie anzusehen.
    »Ja, bitte«, sagt Pressia. »Danke sehr.« Es ist so lange her, dass sie sich manierlich benommen hat, dass sie nicht mehr sicher ist, ob sie die richtige Antwort gegeben hat oder nicht. Ihr Großvater hat versucht, ihr Manieren beizubringen, als sie noch klein war. Weil er genauso erzogen worden ist, sagte er. »Für den Fall, dass du eines Tages mit dem Präsidenten am Tisch sitzt«, habe seine Mutter dazu gesagt. Ohne einen Präsidenten sind die Argumente für Manieren natürlich nichts wert.
    Ingerships Frau kommt mit einem glänzenden Metallkrug an den Tisch, dessen Inhalt so kalt ist, dass die Außenseite vor Kondensation tropft, und schenkt jedem ein Glas Limonade ein. Die Limonade ist hellgelb. Pressia möchte davon trinken, doch sie wartet. Sie überlegt, dass es am besten ist, wenn sie alles tut, was Ingership macht, auf genau die gleiche Weise. Vielleicht mag er sie dann mehr, wenn er denkt, dass sie ihm irgendwie ähnelt. Im hell erleuchteten Raum glänzt das Metall von Ingerships Maske wie Chrom. Sie fragt sich, ob er es jeden Abend poliert.
    Ingership nimmt seine weiße Stoffserviette, entfaltet sie mit einem Schwung und stopft sie sich unter das Kinn. Pressia folgt seinem Beispiel – einhändig. Ingership zieht seine Uniformmütze tiefer in die Stirn. Pressia hat keine Uniformmütze, also streicht sie sich das Haar glatt.
    Als Ingerships Frau die Schale mit den Austern nimmt, hebt er zwei Finger, und sie setzt ihm zwei Austern auf den Teller. Pressia macht es ihm nach. Außerdem einen Löffel von ölbestrichenem Mais. Und drei Eier. Ingerships Frau sagt: »Ich hoffe, es schmeckt.«
    »Danke sehr, Puppe«, sagt

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