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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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etwas Wunderbares ist. Im Fall ihrer Mutter hat jemand anders die Prothesen für sie gebaut, und die Nähte, Säume, Gelenke, die Lederbänder und Nieten zeigen, wie viel Liebe und Sorgfalt in die Arbeit geflossen sein muss.
    Ihre Mutter trägt eine zum Rock passende weiße Bluse mit vergilbten Perlmuttknöpfen, und Pressia kann nicht sagen, wo die Prothesen enden. Genauso ist es mit ihrer Puppenkopffaust. Sie hat keinen Anfang und kein Ende.
    Die Knöpfe auf der Brust ihrer Mutter heben und senken sich gleichmäßig. Irgendwo in ihrer Brust gibt es eine Lunge und ein Herz. Die anderen, die im Bunker überlebt haben, waren während der Explosionen hier drin. Ihre Mutter muss draußen gewesen sein. Für einen Moment fragt sich Pressia, ob sie tatsächlich versucht hat, Unglückselige zu retten – eine Heilige, genau wie Partridge all die Jahre hindurch geglaubt hat.
    Caruso tritt näher. Er drückt einen Knopf am Rand der Kapsel, und mit einem pneumatischen Zischen öffnet sich der Deckel.
    Partridge hält sich am Rand der Kapsel fest, um nicht zu taumeln.
    Caruso tritt zurück. »Ich lasse euch jetzt allein, damit ihr reden könnt.«
    Aribelle Cording, denkt Pressia. Mrs Willux. Mutter. Wie soll ich sie nennen?
    Und dann öffnet ihre Mutter die Augen. Sie sind grau, wie die von Partridge. Grau wie Aschewolken. Ihre Mutter erblickt Partridges Gesicht direkt über dem eigenen, und sie greift mit der Holzhand nach oben und streichelt seine Wange. »Partridge«, sagt sie leise und beginnt zu weinen.
    »Ja«, sagt Partridge. »Ich bin hier, Mum.«
    »Du bist hier«, flüstert sie. »Leg deine Wange an meine.« Er gehorcht.
    Beide weinen jetzt leise, und für einen Moment fühlt sich Pressia verloren – wie jemand, der nicht eingeladen war. Wie ein Eindringling. Partridge löst sich von seiner Mutter. »Sedge ist auch hier. Er ist draußen, über uns.«
    »Sedge ist hier?«, fragt ihre Mutter.
    »Und Pressia.«
    »Pressia?«, fragt ihre Mutter überrascht, als hätte sie den Namen noch nie gehört, was wahrscheinlich auch so ist. Es ist nicht Pressias richtiger Name. Er wurde erfunden. Pressia kennt ihren richtigen Namen nicht.
    »Deine Tochter«, sagt Partridge. Er streckt die Hand nach Pressia aus und zieht sie neben sich.
    »Aber … wie?«, fragt ihre Mutter und hakt die Zange in einen Griff über der Kapsel. Sie zieht sich in eine sitzende Position und sieht Pressia an, starrt ihr in die Augen, verwirrt, unsicher. »Das … das kann nicht sein«, sagt sie.
    Pressia senkt den Kopf und tritt rasch zurück. Sie rennt gegen den Tisch mit der Elektronik, und eines der schmalen Funkgeräte kippt um und klappert laut auf die metallene Tischfläche. »Oh«, sagt Pressia. »Tut mir leid.« Hastig streckt sie ihre Hand und die Puppenkopffaust aus, um das Gerät wieder hinzustellen. »Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagt sie. »Es war eine Verwechslung.«
    »Nein«, sagt ihre Mutter. »Warte.« Sie deutet auf den Puppenkopf.
    Pressia tritt an die Kapsel.
    Ihre Mutter öffnet die Holzfinger. Pressia hebt den Puppenkopf und legt ihn in die hölzerne Handfläche.
    »Christmas«, sagt ihre Mutter und streicht über die Nase der Puppe und über die kleinen Schmolllippen. Sie sieht Pressia an. »Dein Baby. Ich würde sie überall wiedererkennen.«
    Pressia schließt die Augen. Sie fühlt sich, als würde sie aufbrechen.
    »Du bist mein«, sagt ihre Mutter.
    Pressia nickt.
    Ihre Mutter breitet die Arme aus.
    Pressia beugt sich über die Kapsel und lässt sich von ihrer Mutter an die Brust ziehen. Das ist ihre Mutter – ihre echte Mutter. Sie hört das schwache Schlagen ihres Herzens, spürt das Heben und Senken des zerbrechlichen Brustkorbs, das Leben in ihr. Sie will ihr alles erzählen, woran sie sich geklammert hat all die Jahre – ihre Erinnerungen, wie Perlen auf einer Schnur. Sie will ihr von ihrem Großvater erzählen, von dem Hinterzimmer des Friseurladens, und sie erinnert sich, dass sie die Friseurglocke in der Tasche bei sich hat, die Glocke ohne Klöppel. Sie will sie ihrer Mutter schenken. Es ist kein großes Geschenk, doch es ist etwas, worauf sie zeigen kann: Das hier war mein Leben, doch jetzt hat es sich für immer geändert. »Wie heiße ich?«, fragt Pressia.
    »Du kennst deinen Namen nicht?«
    »Nein.«
    »Emi«, sagt ihre Mutter. »Emi Brigid Imanaka.«
    »Emi Brigid Imanaka«, sagt Pressia. Es klingt so fremd, so unvertraut, dass es ihr überhaupt nicht wie ein Name vorkommt, sondern wie eine

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