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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leni Riefenstahl
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künstlerischen Stummfilm zu machen.
    Der Regisseur eines guten Stummfilms muß zwei Gaben besitzen: Erstens
    alles, was er mit seinen Augen wahrnimmt, ins Optische umsetzen können, und
    zweitens ein angeborenes Gefühl für Rhythmus und Bewegung haben. Außerdem
    müßte er musikalisch sein, nicht auf irgendeinem Gebiet spezialisiert, sondern er
    sollte filmisch musikalisch sein. Das hat mit der üblichen Musikalität wenig zu tun.
    Ein Beispiel: Es kann jemand sehr musikalisch sein, aber nicht fühlen, daß
    diese Musik zu den Bildern nicht paßt. Es stört ihn nicht, wenn irgendeine
    klassische oder moderne Musik als Untermalung bestimmter Filmszenen verwen
    det wird. Dem begabten Filmschöpfer aber wird sich der Magen umdrehen. Bei der
    Gestaltung seines Films fühlt er, auch wenn er selbst nicht ausübender Musiker
    ist, was für eine Musik zu den Bildern gehört - unbewußt komponiert er mit. Er
    spürt, diese Aufnahmen vertragen überhaupt keine Musik, sie würde die Bildwir
    kung zerstören - hier gehören realistische Töne hin - und hier darf die Musik nur
    diesen Rhythmus, diesen Ausdruck, diese Instrumentation und diese Lautstärke
    besitzen. Es ist ihm unerträglich, wenn der Ton zu laut oder zu leise ist. Übrigens
    wird es viel seltener gute Tonfilme als gute Stummfilme geben. Nur wenige
    Menschen besitzen diese dreifache Gabe und können ihre einzelnen Elemente
    harmonisch miteinander verbinden. Auch das ist entscheidend. Keines dieser
    Elemente darf das Übergewicht haben, schon eine Disharmonie der Kräftevertei
    lung zueinander wird nie ein vollendetes Kunstwerk entstehen lassen.
    Unendlich viel schwieriger verhält es sich beim Farbfilm. Denn hier bedarf es
    noch einer vierten Begabung. Ein Gefühl für Farben oder Talent zum Malen allein
    genügt nicht, wie viele glauben. Der Regisseur, der sich zu einem künstlerischen
    Farbfilm befähigt fühlt, sollte zu den vorher genannten Talenten auch die Gabe
    haben, die Farbe ‹filmisch› zu handhaben. Er kann dadurch die dramaturgische
    Wirkung wesentlich steigern, da Farben verschiedene Gefühle auslösen. Zum
    Beispiel ist ‹blau› eine feminine, romantische Farbe und im Gegensatz dazu ‹rot›
    eine Farbe, die Lebensfreude, Vitalität und Leidenschaft ausdrückt. Es muß aber
    auch beachtet werden, daß zu viele oder zu bunte Farben die Wirkung der Bilder
    zerstören können. Die Farbe sollte sich harmonisch eingliedern und in künstleri
    scher Wechselwirkung die anderen Elemente des Films ergänzen. Durch diese neue
    vierfache Kombination von Bild-Bewegung, Ton und Farbe kann Film auch
    Kunst werden.
    Käme nun noch die Erfindung des plastischen Films hinzu, so erhöhten sich die
    Schwierigkeiten, einen künstlerischen Film zu schaffen, ins Unendliche. Diese fünf
    Elemente würden sich nicht vertragen. Sie würden dem Film als Kunstwerk das
    Leben auslöschen. Es entstünde eine Überrealität, die sich von der Kunst entfernen
    würde.»

    Fast zwei Stunden dauerte mein Vortrag, der mit minutenlangem Beifall belohnt wurde. Glücklich über die Anerkennung und Sympathien, die mir die Franzosen entgegenbrachten, schlief ich nach den Aufregungen der letzten Wochen endlich wieder einmal ruhig ein.
      Bevor ich von Paris abreiste, spielte ich ohne mein Wissen in einer peinlich-komischen Szene mit. Meine Freunde wollten mir französische Filmstudios zeigen. Wir besuchten die Ateliers von Pathé. Der Direktor führte mich durch die verschiedenen Hallen. In der größten und letzten wurde eine bemerkenswerte Dekoration aufgebaut. Als wir näher kamen, unterbrachen die Arbeiter ihre Tätigkeit. Sie stellten sich in zwei Reihen zu einer Gruppe auf und fingen zu singen an, wie ich annahm, mir zu Ehren. Es waren Bühnenarbeiter, Beleuchter und Techniker. Erfreut hörte ich mir andächtig den Gesang an, ohne eine Ahnung zu haben, daß das die «Internationale» war. Erst als ich auf die Gruppe zuging, um mich bei ihnen zu bedanken, bemerkte ich, daß die Männer ihre rechten Hände zu Fäusten geballt
hatten. Noch bevor ich dem ersten Arbeiter die Hand geben konnte, stürzte der Direktor auf mich zu und zog mich aus der Halle. Die Arbeiter verharrten, ohne eine Emotion zu zeigen, bewegungslos in ihrer Stellung. Sie wirkten wie ein Kirchenchor, der gerade seinen Choral zu Ende gesungen hat. Erst als sich der Direktor bei mir für diesen Vorfall entschuldigte, fing ich langsam an zu begreifen, daß dies alles andere als eine Huldigung für mich

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