Menschenfänger
Nachtigall beobachte, wie sein giftiger Stachel wirkte.
Hildegard Clemens begann, an ihrer Lippe zu kauen. Ihre demonstrativ zur Schau gestellte entspannte Körperhaltung war einer unübersehbaren Steife gewichen, und die Hände umkrallten einander so fest in ihrem Schoß, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Männer sind empfänglich für die Reize des Neuen. Und ein Mann wie Klaus Windisch, der gerade aus der relativen Isolation des Gefängnisses kommt, ist besonders aufnahmebereit. Er hat nun diese Frau ganz unter Kontrolle. Sie ist nicht so unabhängig wie Sie. Sie weiß, dass er sie töten wird, wenn sie nicht mitspielt. Er hat sie völlig in seiner Gewalt«, bohrte sich die angenehme Bassstimme Nachtigalls unerbittlich in ihr Denken. Doch so einfach war Hildegard Clemens nicht zu beeinflussen!
»In seine Gewalt gebracht! Dass ich nicht lache! Er hat sie aus der Gewalt des Mörders gerettet! So liegen die Dinge nämlich in Wirklichkeit! Er wird sich so lange um sie kümmern, bis sie bei der Polizei die Wahrheit aussagen kann!«, begann sie eine flammende Verteidigungsrede.
Nachtigall zuckte zusammen, versuchte aber, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. Franka Lehmann war also am Leben! Sie konnten sie noch retten!
»Wenn er sie retten wollte, wäre es doch klüger gewesen, sie ins Krankenhaus zu bringen, als nur darauf zu warten, dass es ihr bald besser geht. Wenn sie stirbt, wird sie nur ein weiteres Opfer sein, dass man Klaus Windisch anlastet. Dann kann sie nicht mehr für ihn aussagen!«, mahnte er nachdrücklich.
»Ach nein! Die Polizei hat sich all die Jahre nicht bemüht, den wahren Täter zu fassen. Klaus hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um einen Justizirrtum handelt, doch vonseiten der Ermittlungsbehörde schien niemand daran interessiert, diesen Irrtum aufzuklären. Warum also sollte das ausgerechnet jetzt so wichtig sein?«
»Weil wir ihn kriegen wollen! Zwei Frauen sind schon tot – aber die dritte lebt. Sie ist nur so lange für ihn wertvoll, wie sie aussagen kann!«
»Schön, sie lebt. Er wird sich um sie kümmern.« Hildegard Clemens sah Nachtigall direkt in die Augen und fuhr ihn an: »Dann machen Sie gefälligst in der Zwischenzeit Ihre Arbeit. Fangen Sie den wahren Täter!«
Später wusste Peter Nachtigall nicht mehr, wie er darauf gekommen war. Vielleicht hatte es an der grünlichen Paste gelegen, die unter einem Pflaster an ihrem Finger hervorquoll.
»Sie kennen sich mit Heilkräutern aus, nicht wahr?«
Mit erhobenem Haupt nickte sie.
»Ich mische meine Salben alle selbst. Sie sind ausgesprochen wirkungsvoll. Gegen Warzen, Falten und vieles mehr. Meine Nachbarn kaufen sie gern bei mir«, erklärte sie stolz.
»Da werden Sie doch auch ein paar hilfreiche Dinge für die Versorgung der Verletzungen dieser jungen Frau zusammengestellt haben.« Er rückte etwas näher an sie heran. »Dann gebührt Ihnen vielleicht am Ende der Dank für ihre Rettung. Klaus Windischs Rehabilitation ist vom erfolgreichen Einsatz Ihrer Medikamente abhängig. Er wird so stolz auf Sie sein!«
Eitelkeit ist durchaus menschlich und Anerkennung etwas, wonach Hildegard seit Jahren lechzte. Ja, dachte sie glücklich, er wird stolz auf mich sein, weil ich ihn gerettet habe, weil ich immer an seine Unschuld geglaubt habe, und tappte in die Falle.
»Deshalb habe ich ihm ja auch alles eingepackt, was er so braucht, um Blutungen zu stillen und Verbrennungen abzudecken.«
Sie war also schwer verletzt. Lag jetzt irgendwo, bewacht von Windisch, der sie gequält hatte wie die anderen. Nur den letzten Stich ins Herz hatte er noch aufgeschoben. Windisch wollte die Salben nur, um das Leiden der Frau verlängern zu können. Kälte machte sich in Peter Nachtigall breit.
»Franka Lehmann ist schwanger! Wenn diese Frau stirbt, sind Sie wegen Beihilfe mit dran, das verspreche ich Ihnen. Und glauben Sie nicht, Ihr Klaus wäre dann sehr enttäuscht von Ihnen? Ihre Hilfe war nichts wert. Ja, schlimmer noch. Er wird annehmen, Sie hätten ihm mit Absicht unwirksame Salben mitgegeben. Damit die Frau nicht überlebt, nur weil sie eifersüchtig waren!«, fauchte er sie an. »Wenn sein Rettungsanker stirbt, weil Sie den Gedanken daran nicht ertragen können, wie er den Körper einer anderen liebevoll mit Ihren Tinkturen cremt!«
Für einen Moment sah es so aus, als sinke sie in sich zusammen, doch dann richtete sie sich wieder kerzengerade auf. Wie lange würde er noch brauchen, um dieser Frau die Augen
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