Menschenhafen
stellte sie vor Simon auf den Tisch. Es war eine alte Plastikflasche, deren Etikett abgefallen war, und das leicht trübe Wasser war durch das transparente Plastik gut zu erkennen. Alle drei versammelten sich um die Flasche, als handelte es sich um eine Reliquie, einen heiligen Gegenstand.
Man sah nichts Auffälliges, das hatte Anders bereits festgestellt, als er die Flaschen füllte. Das Wasser in seinem Haus war immer schon von Methangas oder Ausfällungen getrübt worden, es hatte stets dieses dunstige, leicht gespenstische Aussehen gehabt und erst eine Weile in einer offenen Karaffe stehen müssen, um klar zu werden.
Simon zog ein Wasserglas zu sich heran, sah Anders an und fragte: »Darf ich …?«
Die Frage versetzte Anders einen Stich … instinktiven Beschützerwillens, aber noch ehe er den Mund öffnen konnte, hatte Anna-Greta bereits ausgesprochen, was er sagen wollte: »Du willst ja wohl nicht davon trinken?«
»Ich habe schon davon getrunken«, erwiderte Simon. »Aber jetzt wollte ich es nur in ein Glas gießen. Darf ich?«
Anders nickte und fand die Situation leicht absurd. Simon bat um Erlaubnis, Wasser in ein Glas gießen zu dürfen. Aber es war eben nicht absurd. Nicht mehr. Anders fühlte sich nicht wohl dabei, als Simon den Schraubverschluss öffnete und ein schenkte. Maja war in diesem Wasser, und das wusste Simon, deshalb hatte er um Erlaubnis gebeten. Als würde man sich der Asche eines Verstorbenen annehmen. Die Angehörigen mussten gefragt werden.
Sie ist nicht tot. Sie ist nicht fort. Sie …
Anders musste an etwas denken, das Simon ihm vor langer Zeit erzählt hatte, oder war es erst ein paar Tage her? Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren, wenn Tage und Nächte, Hoffnung und Ohnmacht auf verschlungenen Wegen nahtlos ineinander übergingen und sich wieder trennten.
Er wollte schon fragen, aber Simons Experiment beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Simon hatte die Streichholzschachtel herausgeholt und das Insekt in seine linke Hand gekippt. Jetzt führte er die rechte Hand zum Glas, warf Anders einen Blick zu, tauchte Mittel- und Zeigefinger ins Wasser und schloss die Augen.
Es war mucksmäuschenstill in der Küche, während Simon seine Sinne schärfte. Eine halbe Minute verstrich. Dann zog Simon seine Finger aus dem Glas und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Da ist etwas. Vor allem jetzt, seit ich Bescheid weiß. Aber es ist zu schwach.«
Für einen Moment war Simon unschlüssig, was er mit seinen nassen Fingern tun sollte. Er wollte sie schon reflexmäßig an seiner Hose trocken wischen, hielt jedoch inne und ließ sie an der Luft trocknen. Anders hob das Glas zum Mund und leerte es.
»Meinst du wirklich, dass das gut ist?«, fragte Anna-Greta.
»Großmutter«, antwortete Anders. »Du ahnst nicht, wie gut das ist.«
Es ließ sich nicht vermeiden, weil er so viel getrunken hatte, musste er dringend auf Toilette. Wahrscheinlich ließ alle Flüssigkeit, die seinen Körper wieder verließ, Tränen, Schweiß, Urin, den Menschen, der im Wasser war, irgendwie … verdunsten, aber das ließ sich nicht ändern. Er musste später eben mehr trinken.
Auf dem Weg zur Toilette kam er an der verschlossenen Tür zu den Eckchen vorbei und winkte der Flinte, die darin stand, zum Abschied noch einmal zu. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit die Patronen herauszuholen, damit kein Unglück geschah.
Er leerte seine Blase und betrachtete dabei das gerahmte Bild, das über der Toilette hing. Ein klassisches Motiv: Ein kleines Mädchen mit einem Korb auf dem Arm überquert auf einem schmalen Steg einen Abgrund. Neben ihr schwebt ein Engel mit großen Schwingen und ausgestreckten Armen, als wollte er das Mädchen auffangen, falls es stürzen sollte. Das Mädchen ist sich weder der Gefahr noch der Gegenwart des Engels bewusst, es hat nur rosige Wangen und einen sonnigen Blick.
So ist es , dachte Anders. Genauso ist es.
Er wusste selbst nicht recht, was er damit meinte, was ausgerechnet dieses Bild mit seiner Geschichte zu tun hatte, aber so viel wusste er immerhin: Die großen Erzählungen waren wahr, die ewigen Bilder, die Not, Schönheit, Gefahr und Gnade berührten, hatten eine Bedeutung.
Alles ist möglich.
Als er in die Küche zurückkehrte, machte Anna-Greta gerade Feuer im Kamin. Simon betrachtete weiterhin die Flasche, als starrte er in eine Kristallkugel, in der sich jeden Moment ein Funken von etwas zeigen konnte. Anders setzte sich auf die andere Seite des
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