Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
Frau mit der Schürze machte sich eine kurze Notiz, nickte, murmelte ein kurzes »Danke« und entfernte sich.
Die Asiatin sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war, blickte sich noch einmal nach allen Seiten um, obwohl sie allein in dem Café saß, und öffnete dann vorsichtig die Brieftasche. Das Erste, was sie wahrnahm, war das Bild eines Mannes. Eines muskulösen Mannes mit nacktem, jedoch nahezu flächendeckend tätowiertem Oberkörper. Das Bild steckte hinter einer Plastikfolie und wurde beim Aufklappen sofort sichtbar. Neugierig betrachtete die Frau mit den verheulten Mandelaugen das Gesicht des Mannes, konnte sich jedoch nicht erinnern, es schon einmal gesehen zu haben. Auf der linken Seite gab es mehrere Steckfächer, in denen sich Kreditkarten befanden. Jeweils eine von Visa, Mastercard, American Express und gleich zwei von JCB, einer im asiatischen Raum sehr verbreiteten Karte, erkannte Watane. Dahinter steckten ein paar Restaurantquittungen und ein japanischer Führerschein. Watane wollte das Dokument herausziehen, doch in diesem Augenblick kam die Bedienung mit ihrem Tee um die Ecke.
»Nicht wieder erschrecken!«, rief sie, stand ein paar Sekunden später am Tisch und servierte das Getränk.
»Brauchst du sonst noch etwas?«, wollte sie wissen.
»Nein, vielen Dank.«
Erneut nickte die Bedienung kurz, drehte sich um und verzog sich.
Die Japanerin wartete wieder ein paar Sekunden, um dann die kleine, helle Plastikkarte herauszuziehen und in die Hand zu nehmen.
Es erschien ihr in diesem Moment merkwürdig, aber sie hielt erst zum zweiten Mal in ihrem Leben einen japanischen Führerschein in den Händen. Der erste gehörte ihrem Vater, der jedoch nie einen eigenen Wagen besessen hatte, und eine eigene Fahrlizenz hatte sie selbst in ihrem Heimatland, im Gegensatz zu Deutschland, niemals gemacht. Nun betrachtete sie das, wie sie fand, potthässliche Gesicht des Mannes, der sie hatte umbringen wollen, und hätte am liebsten auf sein Foto gespuckt. Erneut fand eine Träne den Weg aus ihrem Auge, und Watane wischte sich mit dem Ärmel der freien Hand über die Wange.
Wo steckt Shinji bloß? , fragte sie sich zum wiederholten Mal, und zum wiederholten Mal drückte sie die Kurzwahltaste seiner Nummer auf ihrem Mobiltelefon, jedoch mit dem bekannten Ergebnis. Vier Klingeltöne, dann seine Ansage auf der Mailbox. Sie steckte das Telefon zurück in ihren Rucksack und sah erneut auf die kleine Plastikkarte in ihrer Hand.
Masami Miura.
Interessant , dachte die junge Frau, der Mann, der mich umbringen wollte, heißt also Masami Miura.
Sie drehte das Bild ins Licht und betrachtete es erneut, war sich jedoch schon davor absolut sicher, dass sie den Mann niemals zuvor gesehen hatte. Mit langsamen Bewegungen legte sie die Karte auf dem Tisch ab, griff nach der Brieftasche und setzte ihre Untersuchung des Inhalts fort. Zwischen der ledernen Außenhülle und dem Stoff der inneren Abdeckung gab es ein weiteres Fach, aus dem Watane ein paar Papiere herausbeförderte. Die Quittung einer Tokioter Tankstelle legte sie sofort zur Seite, hob das unscheinbare Stück Thermopapier jedoch gleich wieder an und las. Das Ausstellungsdatum lag nicht einmal eine Woche zurück, erkannte sie schaudernd. Vor einer Woche musste dieser Masami Miura also noch in Japan gewesen sein. Das nächste Papier war der Abholschein einer Reinigung. Ebenfalls in Tokio ausgestellt, ebenfalls keine Woche alt. Der Rest der Blätter waren Tippscheine eines Wettbüros, insgesamt elf Stück. Offenbar war der Mann ein passionierter Zocker. Mit größer werdender Neugier setzte sie ihre Visitation fort und hielt ein paar Sekunden später ein Flugticket in der Hand, ausgestellt auf Masami Miura.
Er hat Tokio vor fünf Tagen verlassen und will in vier Tagen wieder zurückfliegen , schoss es ihr während der Lektüre der Daten des Flugscheins durch den Kopf. Aber was will er hier in Deutschland? Und warum sucht er nach Shinji?
Viele Fragen, aber keine schlüssige Antwort.
Im letzten Fach, das sie durchsuchte und das durch einen Reißverschluss gesichert war, fand sie neben ein paar weiteren, allerdings abgelaufenen Wettscheinen noch den Reisepass von Miura, was sie sofort zu dem Gedanken verleitete, dass er nun nicht so ohne Weiteres nach Japan zurückreisen durfte. Auch Watane hatte schon einmal ihren Reisepass verloren und konnte sich noch sehr gut an das Theater mit der Botschaft in Paris erinnern und die endlosen Wochen, bis sie das Dokument
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