Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
bei uns arbeiten wollen, im Haus; für diese Gelegenheiten gibt es hier ein Gästeapartment.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe«, wollte Hain wissen, »ist Frau Tanaka nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen, sonst wären Sie beide sich ja noch einmal begegnet. Ist das eher die Normalität?«
»Yoko ist eine junge Frau und lebt auch das Leben einer jungen Frau. Wir überwachen sie nicht.«
»Das heißt?«
Die Asiatin sah ihn tadelnd an.
»Das heißt, dass Yoko tun und lassen kann, was sie will. Wir machen ihr keine Vorschriften.«
»Hat sie einen Freund?«
Nun lachte die Frau laut auf.
»Nein, nicht dass ich wüsste. Warum auch? Sie wird in ein paar Monaten nach Japan zurückgehen und dort vermutlich heiraten. Warum also sollte sie hier in Deutschland etwas mit einem Mann anfangen?«
»Freunde? Bekannte?«
»Auch da bin ich überfragt. Wir mischen uns, wie gesagt, nicht in ihre Angelegenheiten ein.«
»Aber wenn Frau Tanaka unterwegs ist, benutzt sie den roten Kleinwagen, der auf sie zugelassen ist?«
»Davon gehe ich aus, ja«, gab Frau Tondo, nun sehr schnippisch, zurück. »Warum sollte sie mit dem Bus fahren, wenn sie einen Wagen vor der Tür stehen hat?«
»Eine berechtigte Frage«, beeilte Lenz sich zu antworten, weil er nicht wollte, dass die Frau noch ungehaltener reagieren würde.
»Richtig, eine überaus berechtigte Frage«, stellte sie fest. »Und eine weitere berechtigte Frage ist vermutlich, warum Sie das alles wissen wollen. Wie wäre es mit einer Antwort darauf? Hat sich Yoko irgendetwas zuschulden kommen lassen?«
Der Hauptkommissar überlegte kurz, wie viel er der Frau erzählen wollte.
»Nein, Ihre Verwandte hat sich nichts zuschulden kommen lassen, Frau Tondo. Sie steht unter keinem Verdacht, und wir fahnden auch nicht nach ihr. Wir wollen sie lediglich zu einer Sache befragen, bei der sie unter Umständen als Zeugin infrage kommt.«
»Und um was genau geht es dabei?«, wollte sie wissen.
»Das«, erwiderte der Polizist, »fällt leider unter das Dienstgeheimnis. So gerne ich Sie einweihen würde, es ist mir nicht erlaubt. Aber …«
Lenz stoppte, weil im Hof die Scheinwerfer eines Fahrzeugs aufleuchteten, für kurze Zeit das kleine Empfangszimmer in gleißende Helligkeit versetzten, um danach schlagartig zu verlöschen. Die beiden Polizisten sahen erwartungsvoll zu der Frau.
»Das ist mein Mann. Es ist sowieso besser, wenn Sie sich mit ihm besprechen, immerhin ist Yoko seine Großcousine. Bitte warten Sie hier.«
Damit stand sie auf, reckte den Hals ein wenig, um in den Hof sehen zu können, verließ den Raum und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
»Nett«, kommentierte Hain ihren Auftritt, nachdem sie außer Hörweite war.
»Ja, und so überaus zuvorkommend«, bestätigte Lenz.
Auf dem Flur erklang das Schlagen einer Tür, danach wurden Stimmen laut. Offenbar setzte Frau Tondo ihren Mann sofort vom Besuch der Polizisten in Kenntnis. Nach den Wortfetzen, die bei den Polizisten ankamen, hörte es sich an, als würden die Eheleute streiten.
»Willst du ihnen nicht erklären, warum wir wirklich hier sind?«, fragte Hain leise.
»Nein, Thilo, das will ich nicht. Wir haben zwei tote Japaner und vielleicht zwei japanische Frauen, die verschwunden sind. Besser, wir schauen uns erst mal ein wenig genauer an, mit wem wir es hier zu tun haben.«
»Auch wieder richtig. Wir sollten nur darauf achten, dass …«
Der Oberkommissar wurde vom polternden Öffnen der Tür unterbrochen. Dann betrat ein älterer Mann im schwarzen Lodenmantel den Raum.
»Guten Abend«, sagte er mit kehliger Stimme. »Was fällt Ihnen ein, in mein Haus einzudringen?«
»Wir sind nicht in Ihr Haus eingedrungen«, entgegnete Lenz ruhig. »Ganz im Gegenteil. Ihre Frau hat uns sehr freundlich hereingebeten.«
»Und ich fordere Sie genauso freundlich auf, mein Haus zu verlassen. Und zwar jetzt.«
Er drehte sich um, stellte sich mit dem Rücken in die offene Tür und wies mit dem ausgestreckten Arm Richtung Flur und Ausgang. Dabei konnten die Polizisten erkennen, dass ihm das letzte Glied des rechten kleinen Fingers fehlte.
Lenz blieb seelenruhig sitzen.
»Es gibt keinen Grund für Ihre Aggression, Herr Tondo. Wir haben Ihre Frau nach Yoko Tanaka befragt, das Gleiche würden wir gerne mit Ihnen machen. Und es ist mir, offen gesagt, schleierhaft, warum Sie uns gegenüber so ungehalten reagieren.«
»Wenn Sie etwas von mir wissen wollen, schicken Sie mir eine Vorladung. Dann kann ich entscheiden, wie ich
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