Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
des Toten innerhalb der nächsten Sekundenbruchteile zu einer ausgewachsenen Kotzattacke führen würde. Yoko schluckte erneut, atmete tief durch und hob den Daumen, auf dem sich längst eine dicke Blase gebildet hatte, von der kleinen, heißen Fläche an, mit der sie den Gasaustritt am Feuerzeug regelte. Sofort war es wieder stockdunkel um sie herum, und in diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal, seit sie gemeinsam mit Watane in das fremde Auto gezerrt worden war, bewusst, in welcher Gefahr sie schwebten. Vorsichtig, einen Trippelschritt vor den anderen setzend, bewegte sie sich in der Dunkelheit auf jenen Punkt des Kühlhauses zu, an dem sie den Ausgang vermutete. Das Feuerzeug benutzte sie nicht, weil die Daumen an ihren Händen schon jetzt extrem schmerzten.
Immer wieder an irgendwelche Kartons oder Kisten anstoßend, brachte die junge Frau Meter um Meter hinter sich. Mehr als einmal spielten ihre Wahrnehmungen ihr böse Streiche, indem sie die Echos von Geräuschen, die sie auf ihrem Weg durch das dunkle Labyrinth selbst erzeugt hatte, als bedrohliche, von Menschen produzierte Töne missdeutete. Nun blieb sie stehen, holte ein weiteres Mal tief Luft und versuchte umständlich, mit dem rechten Zeigefinger das Feuerzeug zu entzünden, was ihr jedoch erst im siebten oder achten Anlauf gelang. Im diffusen, wegen ihrer zitternden Finger hin und her tänzelnden Schein der Flamme erkannte die junge Japanerin, dass sie sich bis auf wenige Meter der massiv wirkenden, von einem langen, nach rechts weisenden Hebel optisch beherrschten Tür genähert hatte. Rasch brachte sie die kurze verbleibende Distanz hinter sich, legte die freie Hand an den Griff und versuchte, ihn zu bewegen, was zu ihrem großen Erstaunen problemlos möglich war. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie das kalte Metall nach rechts und wartete auf einen Anschlag oder eine Bewegung der Tür, doch weder das eine noch das andere trat ein. Der Hebel ließ sich ohne große Kraftanstrengung um seine Mittelachse drehen, was jedoch zu keinem spürbaren Ergebnis führte. Fast schien es ihr, als würde sie im Nichts herumrühren. Der noch vor wenigen Sekundenbruchteilen in ihr aufkeimende Optimismus und die damit verbundenen Hoffnungen verebbten ebenso schlagartig wie die Flamme in ihrer Hand, als sie den Zeigefinger vom Druckpunkt löste.
»Fuck!«, brüllte sie ebenso ungehalten wie laut, trat zurück und erschrak wegen der vielen Echos in dem akustisch völlig ungedämmten Raum.
»Fuck, fuck, fuck!«
Obwohl sie vor Wut am liebsten irgendetwas kaputt geschlagen hätte, wusste sie natürlich, dass ein solch irrationales Verhalten ihr nicht weiterhelfen würde. Stattdessen nahm sie das Feuerzeug in die andere Hand, drehte es mit dem Zündkopf nach unten und schob es fest auf einen der eiskalten Kartons, die vor ihr aufgebaut waren. Sofort ertönte ein lautes Zischen. Yoko verharrte ein paar Sekunden in dieser Position, hob dann die Hand und startete die Flamme mit der gleichen umständlichen Prozedur wie zuvor erneut.
Okay , dachte sie, einfach durch die Tür geht es nicht. Also sollte ich versuchen, so etwas wie einen Lichtschalter zu finden.
Mit zitternden Fingern drehte sie sich erneut Richtung Tür und suchte die Wände daneben ab.
Fehlanzeige .
Oberhalb nahm sie eine rote, im Fall der Fälle vermutlich rotierende Alarmleuchte wahr, konnte jedoch kein Kabel erkennen, das eine Verbindung herstellte. Sie hob den Kopf, um nach oben an die Decke zu sehen und entdeckte, dass dort in kurzen Abständen ganze Batterien von Leuchtstoffröhren angebracht waren.
Das ist schon mal ein gutes Zeichen.
Zu gerne hätte sie dem Licht in ihrer Hand und damit ihrem schmerzenden Finger eine Pause gegönnt, doch das konnte sie nicht, weil sie nun mit einem Schlag total aufgeregt war.
Es gibt Licht in dieser Kammer des Schreckens und wenn es Licht gibt, muss es auch einen Schalter geben. Was aber, wenn sich der gelobte Knopf auf der anderen Seite der Tür befindet?
Yokos Augen folgten einem Kabel, das aus einem der Röhrengehäuse kam und recht improvisiert an der Decke verlegt worden war. Von dort nahm es den Weg zur Seitenwand und schlängelte sich dann im hinteren Bereich des Raumes nach unten.
Während sie die verkohlende Haut ihres rechten Zeigefingers roch und gleichzeitig versuchte, die damit einhergehenden Schmerzen zu ignorieren, verfolgte die Frau den weiteren Weg des Kabels, das jedoch zu ihrer größten Enttäuschung etwa 40 Zentimeter über dem
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