Menschenskinder
Teenagerjahre ohne irgendwelche Blessuren überstanden hatte. Eingegipste oder verpflasterte Körperteile gehörten in unserer Familie zum Alltag; hier mal zwei Stiche über der Augenbraue, weil Steffi auf die Kante von der Wasserrutsche gefallen war, dort eine Klammer auf der Stirn, weil sich Saschas Kopf als weniger widerstandsfähig erwiesen hatte als die Zentralheizung, und Katja wird auch nie Miss Fingernagel o.ä. werden können, seitdem sie ihren Daumen in der Garagentür hatte. Sven hat allerdings Glück gehabt. Da er im Winter weder Rock noch Nylonstrümpfe trägt, sieht man seine Narbe am Unterschenkel nur in der warmen Jahreszeit.
Die Zwillinge weigerten sich, auch nur einen einzigen Schritt in eine andere Richtung zu tun als zur nächsten Metro-Station, deren Eingang bereits in Sichtweite lag. »Könnt ihr nicht alleine weiterziehen und das Image der kulturbeflissenen Familie aufrechterhalten?«, bettelte Katja, demonstrativ ihre angeblich schmerzenden Zehen reibend. »Wenigstens eine von uns muss sich doch auf der breiten Treppe knipsen lassen. Sacré-Cœur gehört nun mal zum Pflichtprogramm!«
Das war einzusehen, denn die daheimgebliebenen MitFinanciers dieser Reise wollten natürlich Fotos sehen und kontrollieren, ob wir auch alles das beguckt hatten, was ein gebildeter Tourist begucken muss.
»Im Louvre ist Fotografieren sowieso verboten«, hatte Nicki gesagt und den Haupteingang von außen geknipst, »also müssen wir gar nicht sagen, dass wir nicht drin gewesen sind. Abgesehen davon gefällt mir die Mona Lisa von Dali viel besser.«
»Da hängen aber auch noch andere Gemälde außer der Gioconda«, hatte ich zu bemerken gewagt.
»Na, wenn schon! Wer is’n das überhaupt, die Dschio-wienochmal? Muss man die auch kennen?«
Da hatte ich es aufgegeben und war mitgegangen zum Centre Pompidou, das inzwischen ebenfalls zu den Sehenswürdigkeiten gehört, obwohl es aussieht wie ein Mittelding zwischen Ölraffinerie und Weltraumbahnhof, aber wenigstens musste ich nicht mit hinein. Bekanntlich befinden sich die Zugänge außen am Gebäude, man guckt also bei jedem Schritt zumindest auf einer Seite immer in die Tiefe und kann bequem verfolgen, wie viele Meter man runterknallen würde, wenn jetzt die seitliche Begrenzung wegknickt oder die Treppe wegen Überlastung durchbricht. Also auch wieder nichts für Leute mit Hypsiphobie.
Ich setzte mich in eins der kleinen Restaurants, und nach dem dritten Café au lait kamen die Mädchen endlich zurück. Doch, interessant sei es gewesen, natürlich könne man in dieser kurzen Zeit nicht alles sehen, aber die riesige Rolltreppe außen dran sei einfach irre. Es ist wohl doch gut gewesen, dass wir den Louvre ausgespart haben, dort gibt’s nämlich keine!
An der Metro trennten wir uns. Die Zwillinge fuhren ins Hotel zurück, Steffi und ich – sie hatte sich mit mir solidarisch erklärt – nahmen den Zug Richtung Montmartre, stiegen auch an der vorgegebenen Station aus, und dann vermissten wir doch tatsächlich den sonst allgemein gefürchteten deutschen Schilderwald. Bei uns hätte mit Sicherheit schon unten auf dem Bahnsteig ein Pfeil zur richtigen Treppe gezeigt, und beim Ausgang würde man einen Lageplan finden mit dem roten Punkt ›Standort des Betrachters‹ sowie einem etwas kleineren Pünktchen ›Sacré-Cœur‹.
Hier gab es nichts dergleichen, lediglich zwei schmale Straßen, von denen die eine nach rechts und die andere halbschräg nach links oben führte. Wir entschieden uns für letztere, weil die zu besichtigende Kirche bekanntlich auf einem Hügel liegt. Die schräge Straße mündete in eine andere schräge Straße, die wiederum in eine abwärts führende, wir nahmen die nächstmögliche Abzweigung nach oben, die machte aber einen Bogen in die entgegengesetzte Richtung, und dann verlangte Steffi, dass ich nun endlich mal jemanden fragen müsse. »Französisch habe ich nie gehabt!«
»Vielleicht denkst du mal an unsere Wohnmobil-Tour durch Südfrankreich zurück!«, erinnerte ich sie. »Schon damals hatte es erhebliche Kommunikationsschwierigkeiten gegeben zwischen den Einwohnern und mir, und das liegt bereits zehn Jahre zurück! Glaubst du im Ernst, mir sind die vergessenen Vokabeln inzwischen wieder eingefallen?«
Nein, das glaubte Steffi nicht, aber: »Du bist immer noch besser dran, ich habe ja nicht mal welche gelernt!«
Eine Frau mit Pudel, beide leicht übergewichtig, schien mir das passende Objekt. »Pour aller à 1’église
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