Menschensoehne
so, als wäre ich als Erster zur Arbeit erschienen. Ich fand dieses Leben völlig in Ordnung. Niemand hat sich um mich gekümmert, und ich brauchte mich auch um niemanden zu kümmern. In dieser Stadt leben mehr als hunderttausend Menschen, und alle glauben, dass jeder jeden kennt, wie in früheren Zeiten, aber das stimmt überhaupt nicht mehr. Die meisten Leute haben zeit ihres Lebens höchstens Kontakt zu einem Bruchteil der Einwohner von Reykjavík und kommen nie mit dem Gros der Bevölkerung in Berührung. Ich habe mir einen neuen Namen und eine neue Personenkennziffer verschafft, das ist die einfachste Sache der Welt. Ich habe lange auf die Gelegenheit gewartet, den Faden wieder aufnehmen zu können. Als Halldór dann schließlich in der Klinik auftauchte und Danni von den Pillen erzählte, wusste ich, dass wir sie jetzt zu fassen kriegen könnten.«
»Bist du mir heute Nacht zu Hilfe gekommen?«
»Ich bin dir in den letzten Tagen überallhin gefolgt, weil Halldór mir sagte, dass er dir die Kassetten geschickt hätte. Ich wusste nicht nur von den Kassetten, sondern ich wusste auch, dass Halldór ihnen damit gedroht hatte. Danni hat mich gebeten, auf dich aufzupassen. Heute Nacht war ich in der Nähe, als dieser Kerl auf ziemlich ungeschickte Weise in deine Wohnung eingebrochen ist. Ich habe ihn sichergestellt.«
»Und wer war das?«
»Ich habe noch keine Zeit gehabt, ihn danach zu fragen. Ich habe ihn in Verwahrsam, bis er uns von Nutzen sein kann.«
»Und Sigmar? Wusste er immer über dich Bescheid?«
»Nicht nur er, sondern auch deine Mutter, Pálmi. Sie wusste, wer sich in der Klinik um Danni kümmerte, aber sie hat mich nie darauf angesprochen und mir keine Fragen gestellt. Du konntest dich natürlich nicht an mich erinnern. Sigmar war ziemlich elend dran, und ich habe geahnt, dass die Polizei sich ihn schnappen würde, wenn sie anfingen, in der Vergangenheit zu graben. Wir haben seine Aussage genau vorprogrammiert. Hat er euch erzählt, wie ich mein Auge verloren habe? Das war diese Bande, aber ich habe nie rauskriegen können, wer es war, der damals den Pfeil auf mich abgefeuert hat.«
»Du hast Sigmar erzählt, was Halldór auf den Kassetten gesagt hatte.«
»Er wusste, wie alles zusammenhing.«
»Sigmar hat dich bei Daníels Beerdigung gesehen. Ist er deswegen weggerannt?«
»Er hat dir das gesagt, was du wissen musstest, um dich bei der Stange zu halten. Das hatten wir abgesprochen.«
»Sigmar hat sich im Untersuchungsgefängnis erhängt.«
»Ja, ich weiß. So, wie die Dinge standen, hat es mich nicht überrascht. Sigmar hat es am längsten ausgehalten, aber die Jungs hatten nicht die geringste Chance im Leben. Sie sind einfach kaputtgemacht worden. Das kann man nicht anders ausdrücken.«
»Hast du gewusst, dass Daníel sich umbringen wollte?«
»Danni war in miserabler Verfassung. Er hatte keine Zukunft und auch keine Vergangenheit. Als ich ihn zum letzten Mal traf, hat er gesagt, dass er am Ende war. Und nachdem er sich angehört hatte, was Halldór ihm sagen wollte, schien er überhaupt keinen Sinn mehr im Leben zu sehen. Es war ein Zufall, dass er um die gleiche Zeit in den Tod sprang, als Halldór starb. In gewissem Sinne trauere ich Danni nach, aber ich verstehe ihn vollkommen.«
»Und was jetzt? Was sollen wir mit diesen Kassetten machen?«
»Die kriegen selbstverständlich deine Freunde bei der Kriminalpolizei. Es wird höchste Zeit, dass sie Informationen über Fentiaz und den Besitzer Sævar Kreutz bekommen.«
Fünfunddreißig
Kiddi Kolke saß im schummrigen Licht auf seinem Stuhl. Pálmi hatte sich wieder etwas gefangen und machte Tee, den er in zwei großen Bechern aus der Küche hereintrug. Jetzt saßen sie einander gegenüber und wärmten sich die Hände an den heißen Tassen.
»Aggi war der Erste«, sagte Kiddi Kolke. »Er bewahrte die Pillengläser auf, die sie Halldór geklaut hatten, aber er hat zu viel davon genommen. Ein paar Tage nachdem Danni Halldór entwischt war, haben wir auf einer Wiese Fußball gespielt. Wir sechs traten immer gemeinsam in einer Mannschaft gegen andere Jungs aus dem Viertel an. Meist waren wir noch nicht einmal außer Puste, als die anderen schon japsend am Boden lagen. Aggi war der Beste in unserer Mannschaft, der war nicht kleinzukriegen. Die Leute redeten darüber, dass sie noch nie einen so schönen Sommer erlebt hätten, jeden Tag Sonne. Da, wo wir spielten, war der Boden völlig zertrampelt. Als Tore hatten wir ein paar Stangen in
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