Menschenteufel
Schreibmaschineschreiben auf einer alten Maschine
der Großtante. Eigentlich hatte ich nach der Schule studieren wollen, aber
daraus wurde vorerst nichts. Später auch nicht. Die ersten Jahre nach dem Krieg
waren die schlimmsten. Im Herbst 1947 konnte uns der Bauer nicht mehr bei sich
behalten. Auch bei der Tante in Salzburg gab es keinen Platz mehr. Wir mussten
zurück nach Wien. Provisorisch kamen wir in einem Zimmer bei einem Onkel unter.
Der Winter war das Schlimmste, was ich in meinem Leben bis dahin erlebt hatte.
Die Menschen erfroren und verhungerten auf offener Straße.«
Petzold musste an ihren Traum denken.
»Warum erzähle ich Ihnen das alles? Damit Sie verstehen, was danach
geschah. Obwohl es da eigentlich nichts zu verstehen gibt.«
Bei der Erinnerung begann sie zu lächeln. Seltsam, fand Petzold, was
war daran so erfreulich?
»Zurück in Wien suchte ich eine Stelle, fand aber keine. An
Studieren war nicht zu denken, uns fehlte das Geld. Mutter und ich hielten uns
und die beiden Kleinen mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Keine Nachricht
von unserem Vater. Bei jedem Heimkehrerzug stand meine Mutter am Bahnhof,
streckte den Ankommenden das abgegriffene Bild meines Vaters entgegen. Manchmal
kam ich oder eines meiner Geschwister mit. Mein Vater stieg aus keinem der
Züge. Auch später nicht. Entschuldigen Sie, ich glaube, das habe ich schon
erwähnt.«
Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und fuhr fort: »Natürlich
hatte man uns vor den Soldaten gewarnt. Besonders vor den sowjetischen. Und vor
den Negern erst recht.«
Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf.
»Sie können sich das nicht vorstellen! Was man uns über sie erzählt
hatte! Wilde, Untermenschen, Tiere. Schon wer ein Verhältnis mit einem weißen
Besatzungssoldaten einging, galt als Hure. Aber mit einem Neger …«
Wenig hat sich verändert seither, dachte Petzold.
»Nach ein paar Wochen in Wien war ich in eine Gruppe alter
Freundinnen und Freunde geraten, die ich zum Teil noch von der Schule kannte.
Im Wesentlichen hatte sie sich um zwei Männer gebildet, die gute Verbindungen
am Schwarzmarkt hatten. Ich glaube, das war sogar der einzige Grund für ihr
Bestehen. Ein paar Jahre später hatte keiner mehr mit dem anderen Kontakt. Auf
jeden Fall hatten die beiden einen guten Draht zu den Militärs. Man braucht
sich da nichts vorzumachen. Der damalige Schwarzhandel in Wien wurde bestimmt
von korrupten Soldaten und Offizieren der Besatzungsmächte. Gegen deren Willen
ging gar nichts. Und so feindlich sich die Parteien öffentlich
gegenüberstanden, in der geheimen Welt der Unterschlagung, des Diebstahls und
Schmuggels von Vorräten und Waren kooperierten sie ganz ausgezeichnet. So kam
auch ich in Berührung mit den Soldaten. Bei einem Fest lernte ich im November
1947 dann Alvin Tomlins kennen.«
Sie verstummte, lachte einmal lautlos in sich hinein und schüttelte
den Kopf. Als könne sie es heute noch nicht fassen. »Es war wie ein Blitz. Ich
weiß, das klingt abgedroschen, aber genauso war es. Seine Hautfarbe war mir
völlig egal. Sie wäre mir nicht einmal aufgefallen. Er war ein Gentleman, gebildet,
sprach sogar leidlich Deutsch und hatte das umwerfendste Lächeln, das ich je
gesehen habe.«
In Erinnerungen versunken nahm sie noch einen Schluck Tee.
»Wir tanzten. Und wir redeten. Stundenlang. Am nächsten Tag traf ich
ihn wieder. Danach sahen wir uns jeden Tag. Es war eine entsetzliche
Heimlichtuerei. Niemand durfte von uns wissen. Für die Soldaten bestand
Fraternisierungsverbot, na, und hätte meine Mutter davon erfahren, hätte sie
mich mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch windelweich geprügelt. ›Die Neger
haben in Europa nichts verloren‹, schimpfte man. So ging das ein paar Monate.
Am Neujahrstag 1948 machte Al mir einen Heiratsantrag.«
Petzold beobachtete, wie die Unterlippe der Frau zu zittern begann,
bevor sie diese schnell unter die Oberlippe presste.
»Ich habe gezögert«, gestand die alte Frau stockend. »Das habe ich
mir nie verziehen.«
Sie blickte Petzold an. »Er wusste natürlich, was man von Schwarzen
hielt. Sie waren ja auch in der amerikanischen Armee benachteiligt. Und jetzt
musste er denken, dass ich …« Wieder verstummte sie und schluckte trocken.
Erschüttert beschlich Petzold das Gefühl, dass die Greisin zum
ersten Mal in ihrem Leben über die Ereignisse und Gefühle von damals sprach.
Als hätte das Bild nicht nur eine Tür geöffnet, sondern einen Damm gebrochen.
Wildschek fasste sich
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